Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneller als der Tod

Schneller als der Tod

Titel: Schneller als der Tod
Autoren: Josh Bazell
Vom Netzwerk:
ich an zu heulen. Wollen Sie mich etwa weinen sehen?«
    »Arbeiten wäre schlimmer.«
    Sie gibt mir einen neckischen Klaps und beugt sich über den Reißverschluss ihres Trolleys. Wenn sie Unterwäsche trägt, muss die von einer mir unbekannten Machart sein. »Jedenfalls«, sagt sie, »fallen mir da nur Sachen wie
Karriere
ein. Oder dass ich nicht mit zwei Frauen zusammenwohnen möchte. Oder keine Eltern haben möchte, die meinen, ich hätte in Oklahoma bleiben sollen. Da können Sie ja wohl nichts für mich tun.«
    Sie richtet sich auf und hat eine Musterpackung Moxfan und ein Paar Dermagels in der Hand, die 18-Dollar-Gummihandschuhe von Martin-Whiting Aldomed. »Fürs Erste reicht's mir, wenn ich Ihnen unsere neuen Handschuhe vorführen darf.«
    »Die kenne ich«, sage ich.
    »Und haben Sie schon mal durch so einen Handschuh geküsst?« »Nein.«
    »Ich auch nicht. Ich bin ganz verrückt darauf.« Mit der Hüfte drückt sie den Stopp-Schalter. »Ups«, sagt sie.
    Sie nimmt den Stulpen eines Handschuhs zwischen die Zähne, um ihn aufzureißen, und ich lache. Kennen Sie das Gefühl, nicht genau zu wissen, ob man Sie anbaggert und ob Sie ein echtes menschliches Wesen vor sich haben?
    Ich liebe das.
    »Die Station ist der reinste Albtraum«, sagt Akfal, der andere Assi in meinem Team, als ich ihn endlich ablösen komme. Was den Zivilisten ihr »Hallo«, ist den Assistenzärzten ihr »Die Station ist der reinste Albtraum.«
    Akfal ist eine J-Card aus Ägypten. J-Cards sind ausländische Jungmediziner, deren Visa eingezogen werden können, wenn ihre Gastgeberkliniken nicht mit ihnen zufrieden sind. Man könnte sie ebenso gut »Sklaven« nennen. Er gibt mir eine Liste der aktuellen Patienten - seine eigene ist voller Anmerkungen und arg zerknittert - und spricht sie mit mir durch. Blabla Zimmer 809 Süd. Blabla Kolostomie-Infektion.
    Bla Frau von 37 eingetragen für die Chemotherabla. Blablablablabla. Unmöglich, da mitzukommen, selbst wenn man es will.
    Stattdessen lehne ich mich gegen den Rezeptionstisch und werde daran erinnert, dass ich noch ein Schießeisen in der Innentasche meiner OP-Hose*
(OP-Anzüge sind doppelseitig tragbar, für den Fall, dass man eine Anästhesie oder so etwas machen muss, aber zu müde ist, um sich die Hose richtig anzuziehen
.) trage.
    Ich muss die Knarre irgendwo verstauen, aber die Umkleide ist vier Etagen entfernt. Vielleicht sollte ich sie hinter ein paar Lehrbüchern im Aufenthaltsraum für die Schwestern und Pfleger verstecken. Oder unter dem Bett im Bereitschaftsraum. Hauptsache, ich kann mich so weit konzentrieren, dass ich hinterher noch weiß, wo ich sie hingetan habe.
    Schließlich hört Akfal auf zu reden. »Alles klar?«, fragt er mich.
    »Ja«, sage ich. »Geh heim und schlaf 'ne Runde.« »Danke«, sagt Akfal.
    Akfal wird weder nach Hause gehen noch schlafen. Akfal wird mindestens die nächsten vier Stunden hindurch Versicherungskram für den Klinikchef Dr. Nordenskirk erledigen.
    »Geh heim und schlaf 'ne Runde« ist einfach Assistenzärztlich für »Tschüs«.
    Wenn man morgens um halb sechs Visite macht, bekommt man normalerweise von gut einem halben Dutzend Leuten zu hören, dass es ihnen bestens ginge, wenn wir Arschlöcher sie nicht alle vier Stunden wecken würden, um zu fragen, wie es ihnen geht. Andere behalten diese Auffassung für sich und meckern stattdessen, dass ihnen andauernd jemand ihren MP3-Player, ihre Medikamente oder sonst was stiehlt. So oder so sieht man sich den Patienten kurz an, wobei man besonders auf Anzeichen für »iatrogene« (von Ärzten verursachte) und »nosokomiale« (krankenhausbedingte) Krankheiten achtet, die zusammengenommen die achthäufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten sind. Dann flüchtet man.
    Es kommt aber auch schon mal vor, dass sich bei der Frühvisite kein Patient beschwert.
    Das ist nie ein gutes Zeichen.

    Im fünften oder sechsten Zimmer, das ich betrete, liegt Duke Mosby, der Patient, den ich momentan mit Abstand am wenigsten hasse. Neunzig Jahre alt und schwarz, ist er wegen Zuckerkomplikationen hier, zu denen jetzt Wundbrand an beiden Füßen gehört. Er war einer der zehn schwarzen Amerikaner, die im Zweiten Weltkrieg bei den Special Forces dienten, und 1943 gelang ihm die Flucht aus Kolditz. Vor vierzehn Tagen gelang ihm die Flucht aus diesem Zimmer im Manhattan Catholic Hospital. In der Unterhose. Im Januar. Daher der Wundbrand. Diabetes macht den Kreislauf sogar dann kaputt, wenn man Schuhe anhat. Zum Glück
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher