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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Autoren: Gunnar Staalesen
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1
    Ich fand Lone H. an ihrer üblichen Ecke in der Istedgade. Sie sah genauso aus, wie sie in all den Jahren ausgesehen hatte, die ich sie jetzt schon kannte, und das waren bald zehn. Ihr üppiger Körper war vielleicht ein wenig fülliger geworden, aber ihr flammend rotes Haar hatte noch immer die gleichen starren Locken, wie das Haar der Statue einer griechischen Göttin. Ihre zwei beweglichen Muttermale brachte sie mit Wonne je nach Tagesform an unterschiedlichen Stellen in ihrem Gesicht an. An diesem Abend hatte sie eins gleich neben dem linken Nasenflügel platziert, das andere hoch oben auf der rechten Wange. Ihre Augen hatten den blassen Braunton eines Drinks, der aus Wodka und Schmutzwasser gemixt war. Ihre Nase krümmte sich wie die eines Fischadlers, und sie warf den Kopf in den Nacken, sodass man immer das Gefühl hatte, einer Audienz kaum würdig zu sein.
    Aber ihr Kleid war neu: ein lilafarbenes, flatterndes Gewand mit Unmengen großer Blumen und einem Schlitz, der erst knapp unter ihrer Achsel endete.
    Ich hatte längst begriffen, dass ihr herablassender Blick einfach nur auf ihre Kurzsichtigkeit zurückzuführen war, also trat ich dicht an sie heran, als ich mich zu erkennen gab.
    »Veum?«, sagte sie blinzelnd.
    »Hallo Lone«, sagte ich. Ich hatte nie herausbekommen, wofür das H stand. Niemand wusste es, aber Gerüchten zufolge war sie die Tochter eines äußerst bekannten dänischen Politikers. Und Gerüchte sind gute Reklame, hatte Lone beschlossen und sich deshalb nie darum bemüht, sie zu entkräften.
    »Eine halbe Stunde auf deinem Zimmer?«, fragte ich.
    »Fünfhundert«, sagte sie.
    »Okay.«
    »Gehen wir«, sagte sie und schritt mit mir im Schlepptau wie eine Königin von dannen.
    Wir gingen durch den nächsten Hoteleingang, und Lone schenkte dem Mann an der Rezeption einen gnädigen Blick. Es war ein kleiner Kerl in einem karierten Hemd, mit einem Schnauzbart wie eine dreckige Zahnbürste. Als ich auch vorbeiging rief er: »’tschuldigung …«
    Ich sah ihn fragend an.
    »Das macht hundert Mäuse«, sagte er.
    Das war ein ganz neues System. Ich sagte: »Ich bin in Begleitung von …«
    »Hundert Mäuse.«
    Ich bezahlte, und das Geld verschwand wie von einem gigantischen Strudel verschlungen hinter dem Tresen. Vielleicht verschwand es noch weiter nach unten – Barzahlung an den Fürsten der Dunkelheit, Abteilung Istedgade.
    Ich folgte Lone H. die Treppen hinauf.
     
    Die Istedgade ist Kopenhagens Rinnstein. Nachts glitzert sie wie eine falsche Perlenkette, aber nur, weil es dunkel ist. Wenn das Licht kommt – irgendwann gegen Morgen – sieht man die Farbe von den Mauern abblättern, die grellen Fassaden der Pornogeschäfte, die tiefen Furchen in den Gesichtern der Menschen, die immer noch dort unterwegs sind. Sie erinnern an Bluthunde – oder an Ratten. Manche von ihnen können einem Leid tun; um andere sollte man einen großen Bogen machen.
    Wenn es Anfang Juni ist und erst elf Uhr abends, kann es aussehen, als herrsche ein reges Leben in der Istedgade. Aber was sich dort vor allem regt, sind die Touristen. Kleine Japaner mit Fotoapparaten vor dem Bauch starren durch runde Brillengläser in die Gegend. Deutsche mit der Taillenweite eines Autoreifens rollen mit satten Zigarren im Mundwinkel und Augen wie Rosinen in fetter Soße die engen Gehwege entlang. Inder wandern mit ernsten Gesichtern und hängenden Bärten durch diese Märkte der Weltlichkeit, Schweden und Norweger versuchen ihren Vollrausch hinter fröhlichem Gerede und starren Blicken zu verbergen.
    Die in der Straße ihr Geld verdienen, sind eine Klasse für sich. Gut gekleidete junge Männer mit frisch frisierten Haaren in Zweireihern fahren langsam in langen, amerikanischen Autos die Straße auf und ab, während sie in kleinen Büchern den Verdienst ihrer Mädchen notieren, Stunde um Stunde, Kunde für Kunde, die ganze Nacht lang. Die kleinen Inhaber der Pornogeschäfte, mit ihren aufgekrempelten Hemdsärmeln, ihren Hosenträgern und schwellenden Bierbäuchen zählen mit phlegmatischer Ruhe und Augen, die selten einen Blick über den Rand der Kasse werfen, ihr Geld. Hinten an den Regalen stehen die Touristen in Trauben um die verbotene Lektüre versammelt, zeigen mit aufgeregten Fingern, schlecken sich die Lippen und überschlagen hastig, wie viel sie sich noch leisten können, bevor sie die Kasse ansteuern. Draußen vor den Clubs, die noch immer Liveshows zeigen, stehen riesige, breitschultrige Türsteher, die ebenso emsig
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