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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Autoren: Gunnar Staalesen
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Leute hereinlocken, wie sie andere draußen halten.
    Die am meisten am Leben auf der Istedgade verdienen, sieht man nicht. Sie halten sich am Rande der Straße auf, in den Seitenstraßen, oben in kleinen Dachwohnungen oder in bestimmten Zimmern der vielen kleinen Hotels. In den großen Villen nördlich der Stadt oder in Luxuswohnungen überall in Kopenhagen wohnen die Menschen, die das Ganze finanzieren. Das sind die Drahtzieher. Das sind die Haie. Ohne den Rauschgifthandel wäre die Istedgade eine weitaus friedlichere Straße und Kopenhagen ein sehr viel sichereres Reiseziel. Und besorgte Eltern in Städten und an Orten, die weit im Norden von Kopenhagen liegen, hätten keinen Grund, Privatdetektive in diese Stadt zu schicken, um ihre Töchter zu suchen.
    Ich kam gegen 19 Uhr in Kopenhagen an, suchte mir ein billiges Hotel in der Norregade, sprang kurz unter die Dusche und durchdachte die Situation. Vom Fenster meines Zimmers aus sah ich in einen hohen, engen Hinterhof, in dem die Feuertreppen im Zickzack-Muster zu den Dächern und den Tauben aufstiegen. Die Tauben kämpften sich in ein viereckiges Stück Himmel hinauf. Der Himmel schien gerade zu verblassen, und es lag ein Hauch von Frost in der Luft. Es war Anfang Juni, aber der Winter war in diesem Jahr lang und hart gewesen.
    Ich begab mich in die Istedgade und begann die traditionelle Bordsteinwanderung an den Frauen entlang.
    Die, meisten Frauen in der Istedgade – und es sind viele – sind verletzte Vögel, die an einer ungastlichen Küste gestrandet sind.
    Die älteren haben routinierte, zynische Herz-Dame-Gesichter in einer vor langer Zeit einstudierten Pose, ihre Gesichtszüge erinnern an zerbrochene Steinfiguren. Sie verstecken sich unter dicken Schichten von Schminke und duften stark nach Parfüm.
    Die jungen sind verletzte Kinder. Ihr Mund spannt sich zu einem Ausdruck, der an Verachtung erinnert. Sie gehören nicht hierher, sondern sollten schüchtern in einem Hauseingang in einer kleinen Stadt weit oben im Norden stehen und schlaksigen Teenagern Gute-Nacht-Küsse geben. Stattdessen gehen sie mit kleinen Männern mittleren Alters auf schäbige Hotelzimmer und schlafen mit ihnen, verschaffen ihnen eine traurige Befriedigung und sich selbst Geld genug für den nächsten, unumgänglichen Schuss.
    Vielleicht würde ich das Mädchen, nach dem ich suchte, unter ihnen finden, vielleicht auch nicht. Es sind viele, und in gewisser Weise sind sie alle gleich: unauffällig gekleidet, in ausdruckslosen Jeans, Rollkragenpullovern und offenen Herrenjacketts. Es war leicht, an der, die man suchte, vorbeizugehen. Ein Gesicht in der Menge, in der Dunkelheit.
    Und wenn ich sie fand, was hatte ich ihr anzubieten?
    Eine Reise zurück – zu was?
    Aber solche Fragen stellte ich nicht. Dafür wurde ich nicht bezahlt. Ich kam, sah und fand. Und wenn ich nicht fand, fuhr ich wieder zurück. Auch dafür wurde ich meistens bezahlt.
     
    Sie setzte sich auf die Bettkante, öffnete ihre Handtasche, wühlte darin herum, steckte sich einen schlanken Zigarillo zwischen die vollen, rosenroten Lippen und zündete ihn mit einem vergoldeten Feuerzeug an. Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl.
    Es war ein spartanisch eingerichteter Raum. Er enthielt ein breites Bett, den Stuhl, auf dem ich saß, ein Waschbecken, auf dem in einer Schale eine Hand voll eingepackter Seifenstücke lagen, und an der Wand darüber hing ein Behälter mit Papierhandtüchern. Das Rollo vor dem Fenster war heruntergezogen. Auf dem Rollo war ein ovaler Kreis um eine Zeichnung von einer halb nackten Frau gemalt, die auf dem Schoß eines äußerst bekleideten Herrn mit viktorianischem Vatermörder saß. Sonst gab es in dem Zimmer keinen Schmuck – außer Lone – und auch da kam es ganz darauf an, mit welchen Augen man sie betrachtete.
    Ihre Stimme klang wie eine rostige Kette. »Lange nicht gesehen, Veum – aber du bist noch dabei, wie ich sehe. Klar, denn du bist ja wohl nicht als Tourist hier, oder?«
    Ich sah sie an und schüttelte leicht den Kopf. »Wie geht’s dir, Lone?«
    Sie blies den Rauch aus ihrem Rosenmund hinauf zur Decke. Wenn man die Augen fast geschlossen hielt, sah ihr Mund tatsächlich beinahe wie eine echte Rose aus. Wenn man sie wieder öffnete, entdeckte man, dass es nur eine Täuschung gewesen war. »Ich stehe meine Frau. Oder liege, wenn du so willst. Das Leben geht seinen Gang: Die Betten quietschen, und die Potenzen sind verschieden wie die Vögel am Himmel. Manche sind stark und
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