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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Autoren: Gunnar Staalesen
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andere schwach. Aber alles in allem ist das Leben seinen normalen Gang gegangen für die alte Lone. Sie hat noch Power, irgendwie. Bald ist sie zu alt.«
    »Und dann?«
    »Dann ziehe ich mich zurück. Mein Bankkonto wird von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht dicker – und wenn ich zu alt bin, kaufe ich mir ein Reihenhaus oben bei Dronningmolle, sitze abends vor dem Kamin mit Fenster zum Meer, sehe nach Schweden rüber auf die Lichter dort, betrachte die Schiffe, die nach Norden und nach Süden gehen, vielleicht … Wer weiß, vielleicht gibt es jemanden, der mit der alten Lone zusammenleben will. Sie kann fast alles, und sie kann immer noch lernen. Wenn ich nur alt genug werde …«
    Also das war ihr Traum. Ein Traum, in dem es sich gut leben ließ. »Vielleicht – vielleicht komme ich dich auch besuchen.«
    Sie lächelte schief. »Tu das, Veum. Ich werde Pfannkuchen für dich backen, mit Blaubeermarmelade.«
    Ich lächelte zurück, zum Zeichen dafür, dass ich die Einladung annahm. Ich suchte in meiner Jackentasche nach meiner Brieftasche.
    »Aber du bist nicht hergekommen, um mit der alten Lone Blödsinn zu reden. Um wen geht es diesmal? Noch ein Mädchen, das weggelaufen ist?«
    Ich zog ein kleines Foto hervor. Sie hielt es sich vor die Nase, blinzelte und starrte lange darauf. »Sie sieht jung aus, Veum. Sie sieht nicht aus, als ob – sie sieht – unschuldig aus …«
    Ich nickte. Das war auch mein Eindruck gewesen, als ich das Bild zum ersten Mal sah. Ein Konfirmationsfoto von einem Mädchen aus den Schären, vielleicht. Eine Fotografie von einer christlichen Jugendfreizeit. Ein Kind: ein blasses Gesicht mit runden Wangen und einem kleinen Kinn, große, offene blaue Augen, blondes Haar, das auf beiden Seiten des Gesichts gerade herunterhing, ein Pony, der in der Mitte von der Brise geteilt wurde, die auf dem Bild wehte. Ein Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war.
    Lone fuhr fort: »Diese verdammte Straße! Sie haben mir erzählt, dass jede verdammte Nacht jemand stirbt, Veum. An Drogen. Ich habe nie welche genommen! Bier und Schnaps für die alte Lone – und auch nicht zuviel davon, denn ich spare auf ein Haus. Aber diese Mädchen … die denken an nichts anderes als an den nächsten Schuss, und deshalb verkaufen sie sich auch so verdammt billig, weil sie nicht die Nerven haben, zu warten – und sie haben nicht die Nerven, wählerisch zu sein. Wenn ich mit allen ins Bett gegangen wäre, mit denen die ins Bett gehen, wäre ich schon vor Jahren zerfranst gewesen wie ein alter Feudel. Ein bisschen Stil muss schon sein, Veum – findest du nicht?«
    »Das klingt richtig, irgendwie.«
    Sie gab mir das Bild zurück und sagte lakonisch: »Ich habe sie gesehen, ich fürchte, sie ist im Hundehaus.«
    Ich nahm das Bild entgegen und konnte nicht vermeiden, es noch einmal anzusehen. Eine kalte Hand strich mir über den Rücken, von Schulterblatt zu Schulterblatt. Dieses Gesicht – im Hundehaus? Ich spürte, wie sich meine Muskeln im Nacken und um die Kiefer verkrampften, und ich biss unwillkürlich die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat.
    Sie sah mich traurig an. Mit zwei kräftigen Fingerspitzen brachte sie den Zigarillo um und warf ihn auf den Boden unter dem Waschbecken. Sie befeuchtete ihre Lippen und sagte: »Kann ich sonst noch was für dich tun, – Veum? Du hast immerhin dafür bezahlt.«
    Ich sagte: »Noch nicht. Ich meine, ich hab noch nicht dafür bezahlt.« Während ich die fünf Hunderter hervorholte, fuhr ich fort: »Und es ist nicht deshalb, weil es nicht nett sein könnte, aber wenn sie im Hundehaus ist, bedeutet das, dass ich keine – dass jede Minute kostbar ist.«
    »Sie ist schon eine halbe Woche da, Veum. Wenn sie etwas noch hatte, als sie ankam, dann hat sie es jetzt verloren. Einmal mehr oder weniger …«
    »Einmal mehr oder weniger ist gerade, was den kleinen Unterschied ausmacht«, sagte ich.
    Sie sah mich mit ihren klugen Augen nachdenklich an. »Du … du bist magerer geworden, Veum. Wie steht’s denn mit – der Liebe?«
    »Ich trainiere härter, Lone. Ich kann es mir nicht mehr so oft leisten, mich satt zu essen. Und die Liebe …« Ich zuckte mit den Schultern und gab ihr die fünf Hunderter. »Poker.«
    Dann stand ich auf und betrachtete sie. »Ruh dich lieber eine halbe Stunde aus, Lone. Und mach’s gut. Wir sehen uns bestimmt – irgendwann.«
    Ich klopfte ihr leicht und kameradschaftlich auf die Schulter. Nur das, denn mit den anderen Berührungen hatten alle anderen sie
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