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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Autoren: Gunnar Staalesen
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mir: Peter selbst, auf dem Foto, Niels Halle mit der gleichen Kopfform, dem gleichen Gesicht; Håkon Werner ganz anders, runder, weicher, wie Ingelin … die kleine Schwester Ingelin.
    Sie strich mit dem scharfen Spieß an ihrer Handinnenfläche entlang, ließ die Spitze an der Pulsader ruhen, sah fast verträumt auf das klopfende Blut unter der dünnen, weißen Haut. »Ich wollte ihn umbringen, wirklich. Aber als ich ins Zimmer kam … Er wartete auf mich. Er saß auf dem Bett mit einer Zigarette im Mundwinkel, und dem Morgenmantel – vorne offen. Bist du zur letzten Ölung gekommen?, fragte er und grinste. Als er aufstand und auf mich zukam und – die Arme um mich legte … Ich weiß nicht, warum er es tat, es wäre viel barmherziger gewesen – aber er schlief mit mir, wir liebten uns – zum aller – , allerletzten Mal. Und danach sagte er genau das. ›Das war der Abschiedskuss‹, sagte er. Da nahm ich das Messer, das ich in der Tasche hatte und stieß es in ihn hinein, so tief in den Unterleib, wie ich konnte. Ich wollte ihn dort treffen, verstehst du – in seinem Innersten … wo sein Herz saß.« Ihre Stimme klang jetzt fast ein wenig belustigt, als erzählte sie von einem amüsanten Zusammentreffen. »Er und sein Vater – auf ein Mal!«, sagte sie wild. »Hinterher zog ich mich an und ging nach Hause.«
    Ich sah sie lange an.
    Plötzlich stieß sie hervor: »Er hätte es niemals tun dürfen!«
    »Was?«
    »Mich aufwecken! Das war sein Fehler. Ich – er hätte mich kalt und eingefroren lassen sollen. Aber Peter – Peter kam und erweckte die Liebe in mir wieder zum Leben, Gefühle, von denen ich dachte, sie seinen längst tot, Bodil … Und da durfte er sie nicht einfach wieder auslöschen, oder? Ich konnte es nicht ertragen, zu dem – anderen zurückzukehren. Jetzt nicht mehr.«
    »Nein, verstehe«, sagte ich. »Dornröschen schlief wohl hundert Jahr.«
    »Was?« Sie schaute verständnislos.
    »Das Lied, das ich vorhin erwähnt habe. Dornröschen schlief wohl hundert Jahr. Und dann kam der Prinz und weckte sie aus dem Schlaf. Aber ich dachte – ich fragte mich … was Dornröschen dachte, als sie erwachte.«
    »Und?«, fragte sie gebannt. »Was dachte sie?«
    »Sie dachte an die hundert Jahre, die sie verloren hatte«, sagte ich grimmig. »Sie dachte an alles, was sie verpasst hatte, und dann … dann stieß sie ihm eines Tages ein Messer in den Bauch.«
    »Dornröschen …«, sagte sie verträumt, als hätte ich ihr einen neuen Namen gegeben. Nicht Bodil, nicht ihren wirklichen Namen, sondern einen Namen für den Rest ihres Lebens, wie es auch immer weitergehen mochte – Dornröschen …
    Ich spürte das dringende Bedürfnis, das Thema zu wechseln und sagte: »Und Lisa …«
    »Lisa?«
    »Der Unfall. Wolltest du …«
    Sie schüttelte den Kopf, wieder wehmütig geworden. »Das Schäfchen. Ich wollte doch nur mit ihr reden, ihr erklären … Ich glaube – ich glaube, dass sie irgendwie – verstand. Ich glaube, sie – ahnte es. An dem Abend, als sie aus der Klinik nach Hause gekommen war – nachdem wir ins Bett gegangen waren, hörte ich, dass sie sich hinausschlich. Ich folgte ihr. Ich sah, dass sie von einer Telefonzelle aus telefonierte. Als sie mich entdeckte und weglief, lief ich ihr hinterher. Ich wollte nur mit ihr reden, aber sie – sie hatte irgendwie Angst vor mir.« Sie sah mich fragend an. »Sie – sie lief direkt auf die Straße, vor …«
    Nach einer langen Pause sagte ich: »Und du gingst nach Hause?«
    Ihre Stimme war wieder hell, fast jungmädchenhaft. »Ja, ich ging nach Hause.«
    »So einfach war das also?«
    Sie sagte tröstend: »Ja, so einfach war das.«
    Ich schaute sie resigniert an. »Aber womit hat dieses ganze Elend eigentlich angefangen?«
    Sie sah verträumt über meine Schulter. »Womit es eigentlich angefangen hat? Es fing damit an, dass zwei Menschen heirateten, die nicht hätten heiraten sollen. Und dass sie Kinder bekamen. Damit hat es angefangen.«
    Sie hatte den Grillspieß jetzt umgedreht. Mit beiden Händen hielt sie das Ende fest. Die Spitze berührte den dünnen, roten Kleiderstoff, direkt unter der linken Brust. Der Spieß zeigte leicht nach oben, zum Herzen. Ihre Augen waren zwei schwarze, pulsierende Löcher; ihr Mund stand offen, die Zunge stach zwischen den Zähnen hervor, ihr Blut pochte am Hals. Ich saß wie hypnotisiert.
    Dann erwachte ich plötzlich aus der Trance. »Tu das nicht«, sagte ich, »sei nicht dumm.« Ich streckte meine Hand über
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