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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Autoren: Gunnar Staalesen
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auf. Plötzlich hatten ihre Wangen hitzige Flecken. »Ja? Für mich, vor dreißig Jahren? Das war damals nicht so einfach – nicht für eine Frau, nicht für mich. Wie ich gesagt habe … meine Eltern, sie wollten – und die Kinder – und ich – ich hatte keine Ausbildung. Ich war neunzehn, als wir uns verlobt haben, zwanzig, als ich heiratete. Aber vor allem waren es die Kinder.« Sie sah sich im Raum um, der fast leer war. Ein älteres, weißhaariges Ehepaar saß an einem Tisch weit entfernt; zwei Paare waren dabei, sich an einem anderen Tisch niederzulassen. »Die Kinder. Ich wollte, dass sie ein sicheres, gutes Zuhause hatten, eine gute Kindheit. Und deshalb …« Sie sah mich mit großen, schwarzen Augen an. »Deshalb habe ich mich geopfert.« Sie seufzte. »Klingt das übertrieben dramatisch? Mache ich mich zur Märtyrerin?«
    Ich schüttelte vorsichtig den Kopf.
    »Nein, denn so war es auch nicht. Ich habe mein Leben geopfert für ihres, für seines. Ich gab ihnen die glückliche Kindheit und das sichere Zuhause, aber ich verbrauchte mein eigenes Leben dabei. Ich hatte selbst kein Leben. Und ich hätte es haben können, denn das kann jeder, trotz allem, obwohl es – Blut kosten kann.«
    Ich nickte.
    »Und jetzt – was bleibt mir jetzt? Die beiden ältesten sind längst ausgezogen, und die jüngste …« Sie hob resigniert die Hände. »Weiß der Himmel. Mein Mann – macht so weiter wie vorher … und ich …« Sie beugte sich über den Tisch. Ihr Ausschnitt öffnete sich, die Schlucht zwischen ihren Brüsten wurde tiefer. Auf ihrem Teller blitzte kurz der Grillspieß auf. »Nach fast dreißig Jahren Ehe traf ich – Peter.«
    »Und er weckte Dornröschen aus ihrem Schlaf?«, sagte ich schnell.
    Sie schien erstaunt über mein Verständnis. »Ja, Varg. Er weckte Dornröschen aus dem Schlaf.«

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    Sie legte ihr Besteck ab, streckte ihre Hand über den Tisch und ergriff mein Handgelenk, als wolle sie mich zu sich herüberziehen. Sie sagte: »Sag mir … sag – wie hast du eigentlich herausgefunden …«
    Ich sagte leichthin: »Durch Lisas Reaktion, als ich sie besucht habe.«
    Sie sah mich an. »Welche Reaktion?«
    »Sie hat mir erzählt – recht weltgewandt dafür, dass sie sechzehn ist –, wie sie und Peter – Geld verdienten, jeder für sich, durch – Prostitution. Mit einer Resignation, die in vieler Hinsicht typisch ist für ihre Generation, hat sie akzeptiert, dass er – andere hatte. Auf diese Weise. Aber es gibt eine Rivalin, die keine Frau in der Weltgeschichte jemals hat akzeptieren können, und das ist … tja.« Ich hob ihr meine Hände entgegen. »Diese Reaktion, in Kombination mit einem Lied – das hat meine Gedanken in Gang gesetzt.«
    »Ein Lied?«
    »Ich erzähle es dir später. Was war eigentlich passiert – als Lisa nach Kopenhagen abhaute?«
    Sie aß weiter. Zwischen zwei Bissen sagte sie: »Sie kam nach Hause … Nein. So darf ich es nicht erzählen. Ich muss zuerst von Peter erzählen. Von ihm und – mir. Denn so haben wir uns ja kennen gelernt, wie ich gesagt habe, nach fast dreißig Jahren Ehe. Er war ja immer da gewesen, fast, als Junge, als großer Junge, als … Aber eigentlich lernt man ja die Kinder von – seinen Freunden nie richtig kennen, oder? Man kennt ja kaum seine eigenen, also … Aber an dem Abend … es klingelte an der Tür. Es war spät, und ich wollte gerade ins Bett gehen. Lisa war bei dieser Kur und mein Mann hatte eine Sitzung.« Sie machte eine höhnische Grimasse. »Ich zog meinen Morgenmantel über … Ich sah aus dem Seitenfenster, um zu wissen, wer es war. Als ich sah, dass es nur Peter war, machte ich auf. Er – er fragte nach Lisa. Er wirkte – desperat, verzweifelt. Er wollte nur ihre Adresse haben, sagte er, damit er ihr schreiben könnte. Ich müsste verstehen, er hatte Lisa nicht wehtun wollen, er wollte uns nicht wehtun, plötzlich begann er zu weinen, er … Ich trat zurück, in den Vorflur, und er fiel vor mir auf die Knie, umfasste – mich mit seinen Armen, legte sein Gesicht an mein – an meinen Schoß – und weinte. Mein Morgenmantel war – war – aufgegangen …« Sie sah mich aus großen, weit offenen Augen an. Ihr Mund war halb geöffnet, der Lippenstift war langsam abgenutzt. Ihre Lippen waren wieder merkwürdig schmal geworden: dünn, schmal und verletzbar. Ihr Grillspieß war fast leer, ein Tropfen Rotwein war noch in ihrem Glas. Um uns herum hörten wir Stimmen, das Geräusch von Besteck auf Tellern, Flaschenhälsen an
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