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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Autoren: Gunnar Staalesen
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die beiden anderen etwas anderes mit dir vorhatten als zu – reden, gestern. Sie dachte, ihr hättet Geschäftliches zu besprechen. Wenn du mich fragst, dann tut sie viel dümmer als sie ist.«
    Aber ich fragte ihn nicht, denn ich wusste, dass er Recht hatte. Irene Jonassen wusste sehr wohl, was sie tat. Eine kurze, flimmernde Sekunde lang sah ich sie vor mir, in dem dunklen Treppenhaus, den Rock um die Taille hochgezogen und den Kopf hin und her werfend, und eine gute, schwere Wärme breitete sich in meinem Körper aus. »Tja«, sagte ich dünn. »Das dachte sie also.«
    Wir saßen uns stumm an seinem Schreibtisch gegenüber. Draußen im Korridor hörte man Stimmen, das Geräusch von vorbeitrampelnden Füßen. Durch eine dünne Wand ertönte das Klingeln eines Telefons. Niemand nahm ab und nach fünf, sechs Mal verstummte es.
    Er schob ein paar Formulare zu mir hinüber. Ich füllte ganz oben meine persönlichen Daten aus und unterschrieb ganz unten. Man macht dieselben Dinge hundert Mal, immer wieder, wie bei der Krankenversicherung oder beim Finanzamt. Von Archiven haben sie an solchen Orten noch nichts gehört – oder vielleicht warten sie nur darauf, dich bei einem Fehler zu ertappen.
    Vadheim stand auf, blieb vor dem Schreibtisch stehen und pflanzte alle zehn Finger wie zwei Fächer auf die Schreibtischplatte.
    Ich sagte: »Das heißt also, ihr habt sie freigelassen? Irene Jonassen?«
    Er nickte müde. »Ja. Sie ist – wieder gegangen.«
    »Und Lisa? Gibt es was Neues von ihr?«
    »Nein.« Das war knapp und endgültig. Er riss sich vom Schreibtisch los, kam um ihn herum und streckte mir eine Hand entgegen. »Danke für die Hilfe, Veum. Und ruf ruhig an, wenn etwas ist.«
    Ich ergriff seine Hand. »Wenn etwas ist?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Irgendetwas«, sagte er, bedächtig und viel sagend.
    Ich sah an ihm vorbei aus dem Fenster. Da wuchs die Hecke riesengroß, riesengroß, riesengroß …
    Er schloss die Tür leise hinter mir.
     
    Ich ging ins Büro und sah die Post durch: fünf Reklamesendungen, darunter eine von der Post, und ein Brief von einem Mann in Odda, der auf ein Wort eines Propheten verwies und anfragte, ob ich bereit wäre, den Mann zu finden, der seine Frau geblendet und sie auf den Weg Satans geführt habe. Wohin dieser Weg führte, darüber schrieb er nichts. Vielleicht führte er nach Bergen.
    Ich saß am Schreibtisch und dachte an Dornröschen. Ich hatte einmal ein Kinderbuch gehabt, in dem nur dieses eine Märchen stand. Ich konnte die Bilder noch vor mir sehen: der Stallbursche, der sitzend vor einem Heuhaufen schlief, der Koch, der neben dem Suppentopf eingeschlafen war, Dornröschen selbst, die in blassroten, sanften Schlaf gefallen war … Der Prinz vor der Rosenhecke, auf einem weißen Pferd. Der Prinz, wie er sich, das Schwert schwingend, einen Weg durch die Hecke bahnte. Und schließlich der Prinz über das schlafende Dornröschen gebeugt, ihre Lippen, die sich noch nicht berührten, die eine schicksalsschwere Sekunde lang noch um Haaresbreite voneinander entfernt verharrten, bevor sie sich küssten und sie die Augen aufschlug.
    Was dachte sie wohl – nach hundert Jahren Schlaf?
    War alles um sie herum wie zuvor?
    All ihre Freundinnen und Freunde waren wohl tot und begraben.
    Meine Mutter hatte mir das Buch vorgelesen. Aber meine Mutter war tot. Und mein Vater auch.
    Eltern und Kinder und neue Eltern. Ich blätterte um, und plötzlich war ich der Vater, eine fremde Frau die Mutter, und ich hatte einen kleinen Sohn, Thomas. Wir hatten uns auch nicht so viel zu sagen. Wir wohnten nicht einmal zusammen.
    Generation um Generation, und wir werden den Wind erben. Die Worte verwehen, und wir bleiben zurück mit unserer Stummheit. Nur der Wind weht und weht und …
    Ich stand abrupt auf und ging zum Fenster: Warum ist es so schwer, miteinander zu reden? Was zum Teufel dachte Dornröschen, als sie aufwachte?
    Die Stadt verschwamm, ich hatte Tränen in den Augen. Ohnmächtig ballte ich die Fäuste gegen die Stadt und das Leben und all die schwierigen Worte.
    Dann ging ich zurück und setzte mich wieder hin.
    Ich ließ wieder Ruhe in meinen Körper einkehren. Noch war ich nicht fertig. Es gab noch eines zu tun: Einen Menschen musste ich noch verletzen.
    Ich wählte ihre Nummer. Es klingelte fünf Mal, bevor sie abnahm. »Ha-hallo?«
    »Hallo«, sagte ich. »Hier ist Veum.«
    »Oh …«
    »Ich dachte, wir sollten vielleicht mal miteinander reden.«
    »Ich …«
    »Ich dachte, wir
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