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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Autoren: Gunnar Staalesen
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Frau Jonassen. Vielleicht hat einer oder haben zwei oder haben alle drei geplant, ihn umzubringen, und vielleicht hat es einer getan oder zwei oder alle drei. Und vielleicht sieht die Lösung ganz anders aus. Auf jeden Fall haben wir einen gerichtlichen Hausdurchsuchungsbefehl und eine Befugnis, die Rechnungsbücher seiner Firma durchzusehen. Ein paar von unseren Jungs sind schon auf dem Weg zu dem Lager in Holsnøy. Ein paar gut trainierte Typen von der Wirtschaftsfahndung sitzen und warten nur darauf, loslegen zu können. Wir haben jedenfalls viel mit Arve Jonassen zu besprechen, Veum.«
    Er hielt einen Augenblick inne, dann fügte er nüchtern hinzu: »Aber wenn ich dir einen guten Rat geben darf. Kümmere dich nicht mehr um diese Geschichte. Du hast dich selbst mehr als genug gefährdet. Fahr nach Hause und nimm einen ordentlichen Drink, geh duschen, ruh dich aus und leg dich ins Bett. Vergiss Peter Werner und Arve Jonassen und Lisa und die ganze Bagage.«
    Ich nickte matt. Das war ein guter Rat. Aber ich würde es nicht schaffen, ihn zu befolgen.
    »Gute Nacht, Veum – und denk dran, morgen früh!« Er hob die Hand zum Gruß, lächelte mild und setzte sich in den graugrünen Volvo.
    »Gute Nacht«, sagte ich.
    Er fuhr los und ich stand im Nieselregen und sah seinen Rücklichtern hinterher. Er war seinerzeit ein guter Langstreckenläufer gewesen. Danach war er ein guter Dichter gewesen. Und jetzt war er, so weit ich es beurteilen konnte, ein guter Polizist. Manche haben eben immer die guten Karten, egal, wie sie verteilt werden. Andere dagegen …
    Ich stapfte zu meinem Wagen, setzte mich hinein und fuhr nach Hause.

43
    Am nächsten Morgen stand ich früh auf. Ich zog mir einen Trainingsanzug an und joggte ruhig den Berghang in Richtung Skansemyren hinauf. Ich wärmte mich ordentlich auf, machte Dehnübungen und Kniebeugen und machte die nachtsteife Muskulatur weicher. Oberhalb des Fjellvei blieb ich am Zaun stehen und sah über die Stadt. Es war helles, graues Wetter ohne Regen: ein weißer, schimmernder Himmel, der kurz davor war, aufzureißen.
    Die Bäume im Fjellveien standen mit üppigen, frisch gekämmten Mähnen, richteten in dem leichten Wind ihren grünen Nacken auf, streckten dem unsichtbaren Sommer feuchte Äste entgegen.
    Die Stadt lag unter mir, mit von dichtem Verkehr pochenden Hauptstraßen, die Bürgersteige noch schmutzig. Unten auf dem Marktplatz waren die Händler dabei, ihre Stände aufzubauen. Auf dem Byfjord fuhr ein großes, weißes Touristenschiff auf den Skoltegrunnskai zu. Vor Nordnespynten blieb es fast still liegen. Es sah friedlich aus dort unten. Aber das war eine Lüge. Menschen starben dort in Hotels, Menschen wurden auf abendlichen regennassen Straßen überfahren, Menschen wurden in den fünften Stock eines Rohbaus gebracht …
    Auf dem Rückweg ließ ich es langsam angehen: lief ein wenig, ging, blieb stehen.
    Vor den Gedanken kann man niemals weglaufen. Man kann vor der Stadt weglaufen und den Menschen und alledem, eine Zeit lang, aber vor den Gedanken – niemals.
    Unten in meiner Wohnung schälte ich mich aus den nassen Kleidern und warf sie in die Waschmaschine. Ich duschte und zog mir frische, saubere Sachen an. Dann ging ich in die Stadt.
    Als ich am Schulhof von Christi Krybbe vorbeikam, sah ich eine Gruppe von Mädchen, die im Kreis tanzten und sangen:
    Dornröschen schlief wohl hundert Jahr, hundert Jahr, hundert Jahr, Dornröschen schlief wohl hundert Jahr, hundert Jahr …
    Ich biss mir auf die Lippen, blieb stehen und hörte zu. Es läutete, der Gesang hörte auf, und der Hof leerte sich. Ein Mann mit einer blauen Arbeitsschürze sah mich misstrauisch durch das Schultor an.
    Ich ging weiter …
     
    Vadheim erwartete mich in seinem Büro. Er sah müde aus, hatte tiefe, blaugraue Ringe unter den Augen und einen angespannten Zug um den Mund. Seine Augen waren blutunterlaufen und seine Stimme klang rostig.
    »Wir werden Jonassen und Edvardsen heute Vormittag dem Untersuchungsrichter vorstellen. Wir haben schon mehr als genug gegen sie in der Hand, und der Wettermeldung der Wirtschaftsfahnder zufolge soll es heute noch mehr werden.« Er hielt einen Moment inne. Dann sagte er: »Aber gegen Frau Jonassen haben wir, fürchte ich, nicht so viel …«
    Er sah mich hoffnungsvoll an, als erwartete er, dass ich aufspringen und protestieren würde. Ich sagte nichts und wartete nur, dass er fortfuhr.
    »Sie sagt, sie habe nicht die geringste Ahnung gehabt. Sie wusste nicht, dass
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