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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben
Autoren: Stefan Holtkötter
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gemacht. Sie sagte, Lina muss sich da reingesteigert haben. Und
nicht nur das. Sie sagte auch, dass es nicht das erste Mal gewesen war, dass
Tim sich betrunken hinters Steuer gesetzt hatte. Sandra war überhaupt nicht
beteiligt gewesen.«
    Das erstaunte ihn nicht. Ganz im Gegenteil, es passte für ihn gut
ins Bild.
    »Und was ist mit Martin Probst?«, fragt er. »Hast du auch mit ihm
gesprochen?«
    »Ja. Er sitzt erst einmal hier in Untersuchungshaft. Ihm wird erneut
der Prozess gemacht. Er hat ausgesagt, dass er Klara vergewaltigt hat, weil er
glaubte, dass die Tat keine Rolle mehr spielen würde.«
    »Wie muss ich das verstehen?«
    »Er dachte, seine Mutter wäre tot, und er hätte sie ermordet. Unten
in ihrem Keller. Er dachte, dass er dafür lebenslänglich bekommen würde und
dass eine Vergewaltigung mehr oder weniger nicht mehr ins Gewicht fiele.«
    »Wie geht es denn Frau Probst?«
    »Sie hat eine Gehirnerschütterung und einen komplizierten Armbruch.
Aber es geht ihr gut. Guido war heute bei ihr im Krankenhaus.«
    »Er hat sie besucht? Ist er gerade in der Nähe? Kannst du ihn mir
geben?«
    Sie zögerte. »Ähm … er ist nicht hier. Ich glaube, er ist ein
bisschen böse auf mich.«
    »Was ist denn passiert?«
    »Ich wollte einen Joghurt essen, und da bin ich in seinem Büro über
ein Kabel gestolpert. Dummerweise ist der Joghurt quer über seinen Mantel
geklatscht. Guido ist völlig durchgedreht.« Sie stöhnte auf. »Wusstest du etwa,
dass sein Mantel zweitausendfünfhundert Euro gekostet hat? Das muss man sich
mal vorstellen! Ich meine, wer gibt so viel Geld für einen Mantel aus?«
    »Er ist also gerade auf dem Weg zur Reinigung?«
    »Im Dauerlauf.«
    Hambrock lachte. »Ich bin heute Mittag wieder da«, sagte er. »Bis
dahin hat sich die Lage hoffentlich beruhigt.«
    Er beendete das Gespräch und bog wieder auf die Straße. Es war nun
nicht mehr weit bis Birkenkotten. Zu seiner Überraschung war es Erlend gewesen,
die ihn am Morgen darauf angesprochen hatte.
    »Du musst nach Birkenkotten fahren«, hatte sie mit der gleichen
Kühle gesagt, mit der sie ihm seit seiner Rückkehr begegnete. »Am besten heute
noch.«
    Am Morgen nach Klaras Vergewaltigung hatte sie ihn ins Krankenhaus
begleitet. Klara war über Nacht zur Beobachtung dort geblieben, und sie
erreichten die Station, kurz bevor sie entlassen werden sollte. Ingeborg saß
auf dem Flur in einem Sessel. Sie hatte die Nacht am Bett ihrer Tochter durchwacht
und, so wie sie aussah, dachte Hambrock, wohl auch durchweint. Im fahlen
Morgenlicht schien sie um Jahre gealtert. Als er auftauchte, sprang sie hoch,
lief ihm entgegen und warf sich an seinen Hals. Sie zitterte am ganzen Körper
und wirkte plötzlich ganz schwach und zerbrechlich in seinen Armen. Niemals
hatte er sie so erlebt. Er fühlte sich verlegen aufgrund dieses Blickes, den
sie ihm auf ihr Innerstes gewährte.
    »Es ist, als wäre nur noch ihre Hülle da«, schluchzte sie. »Sie
reagiert gar nicht auf mich.«
    Er versuchte beruhigend auf sie einzureden. Sagte Dinge wie »Es wird
bestimmt ein langer Weg, aber sie wird schon wieder …« und: »Etwas von ihr ist noch da …« Tatsächlich aber sagte er diese Dinge, ohne etwas über ihren
Inhalt zu wissen.
    »Sie hat doch so sehr gekämpft, um all das hinter sich zu lassen«,
sagte Ingeborg. »Ist das der Lohn für ihre Bemühungen? Wo bleibt denn da die
Gerechtigkeit?«
    Darauf hatte er keine Antwort. Er hatte ja selbst noch nicht
verdaut, was geschehen war. Das Leben ist nun mal nicht so, dachte er
verbittert, dass man belohnt wird für seine Bemühungen. Doch das konnte er ihr
natürlich nicht sagen.
    Er hatte Angst davor, zu Klara ins Zimmer zu gehen, und war fast
dankbar, als die Krankenschwester sagte, dass das nicht möglich sei.
    Erlend hatte die ganze Zeit neben ihm gestanden. Sie hatte
schweigend beobachtet, was passierte, und auch später kein Wort darüber
verloren. Erst an diesem Morgen hatte sie das Thema wieder aufgegriffen.
    »Du gehst zu dieser Frau und hilfst ihr. Bei was auch immer.« Ihre
Gesichtszüge wirkten wie erstarrt. »Aber ich sage dir, mein Freund, wenn du
mich betrügst, dann wirst du das nicht überleben. Hörst du? Du wirst es nicht
überleben.«
    »Ich werde dich nicht betrügen.«
    Sie sah, dass er es ernst meinte.
    »Also gut«, sagte sie. »Da haben wir uns ja verstanden.«
    Dann verließ sie das Haus, um zur Arbeit zu gehen, und kurz darauf
machte auch er sich auf den Weg. Es war kein leichter Gang für
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