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Schneetreiben

Schneetreiben

Titel: Schneetreiben
Autoren: Stefan Holtkötter
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unentwegt weiter. Unruhe hatte
sie erfasst. Sie drehte sich mechanisch um und ging auf das Haus zu. Erst
langsam und dann immer schneller. Es waren nur noch wenige Meter bis zur
Haustür. Gleich hatte sie es geschafft.
    Als sie die Schritte im Schnee hörte, war es bereits zu spät. Sie
wirbelte herum. Im Schein ihrer Taschenlampe blitzte Martins Gesicht auf. Er
war direkt hinter ihr.
    Sie ließ die Taschenlampe fallen. Es wurde dunkel. Im nächsten
Moment war er über ihr. Er begrub sie mit seinem Gewicht, drückte sie in den
Schnee.
    Sie wollte schreien, doch seine breite Hand presste sich auf ihren
Mund. Es gab kein Entkommen. Ihre Jacke rutschte hoch, Schnee gelangte unter
ihren Pullover. Als würden sich kalte Finger über ihren Bauch schieben. Ihr
Verstand setzte aus. Sie begann zu treten, zu boxen, um sich zu schlagen.
Niemals wieder durfte das passieren. Niemals. Sie würde es nicht zulassen.
    Und dann war sie frei. Sie musste ihn empfindlich getroffen haben.
Er krümmte sich neben ihr stöhnend im Schnee. Sie sprang auf und rannte los –
zum Haus, auch wenn sie dort nicht sicher war.
    Dann bremste sie ab. Sindbad! Er würde sie beschützen. Er würde sie
retten. Wenn sie ihn von der Kette ließ, würde er Martin zerfleischen. Er würde
nicht von ihm ablassen, ehe er schwerverletzt am Boden läge.
    Sie schlug einen Bogen und lief zur Scheune. Hinter ihr blitzte das
Licht der Taschenlampe auf. Martin suchte die Umgebung ab. Der Strahl erfasste
sie. Er nahm die Verfolgung auf. Sie hörte sein Keuchen und seine sich
nähernden Schritte im Schnee.
    Ihre Körper donnerten ungebremst gegen das Scheunentor. Schnee fiel
von der Dachrinne herab. Sie zog das Tor auf und lief in die Dunkelheit hinein.
    »Sindbad!«
    Er bellte, als wäre er kurz vor dem Kollaps. Sie hörte, wie er
verzweifelt an der Kette zerrte und doch keine Chance hatte, sich zu befreien.
    Das Licht der Taschenlampe erfasste ihren Rücken. Und es erfasste
Sindbad, der versuchte, ihr entgegenzulaufen. Er war nur ein paar Meter
entfernt. Sie hatte es gleich geschafft.
    Martin packte sie von hinten und warf sie auf den Scheunenboden. Sie
fiel auf ihren Ellbogen, ein starker Schmerz flammte auf.
    Er lachte. Stand über ihr und lachte. Das Licht der Taschenlampe
richtete er direkt auf ihr Gesicht.
    »Soll dein Hundchen dir etwa helfen?«, fragte er höhnisch, wandte
sich zu Sindbad und schrie: »Wau, wau, wau!«
    Der Hund drehte nun völlig durch, er war kurz davor, sich mit der
Kette zu erdrosseln.
    Lähmende Angst legte sich über Klara. Sie verstand plötzlich, dass
sie verloren hatte. Sie würde ihn nicht besiegen können.
    Er packte sie und zog sie leichthändig hoch, als wäre sie nur ein
Spielzeug. Dann drückte er sie gegen einen Balken. Sein heißer Atem lag auf
ihrem Gesicht. Sie hatte keine Chance.
    Du hättest ihn töten müssen. Oben auf dem Dachboden, da hättest du
seine Kehle aufschlitzen müssen, dachte sie verzweifelt. Doch du hast die
Gelegenheit verstreichen lassen, und jetzt ist es zu spät.
    Sein Gesicht rückte näher. »Ich habe dir gesagt, dass ich
wiederkomme. Ich hätte es schon viel eher tun sollen. Jetzt zeige ich dir, was
mit Mädchen passiert, die nicht tun, was ich ihnen sage.«
    Du musst ihn töten. Du musst ihn zerstören. Irgendwie. Hörst du? Du
musst es tun. Jetzt.
    Er umfasste ihren Hals und drückte zu. Sie bekam keine Luft mehr. Es
gelang ihr, ihren einen Arm zu befreien und ihm ins Gesicht zu fassen. Sie
versuchte, ihm ein Auge auszudrücken. Ihm den größtmöglichen Schmerz zuzufügen.
    Doch er schlug sie von sich weg, als wäre sie ein lästiges Insekt.
Leicht, wie sie war, flog sie in einem Bogen durch die Scheune. Ihr Kopf schlug
gegen eine Wand. Erneut flammte ein unerträglicher Schmerz auf.
    Sindbads Bellen wurde heiser.
    Martin stürzte sich auf sie. Drückte seine harte Hand in ihren
Schritt. Legte sich mit seinem schweren Körper auf sie. War so dicht über ihr,
dass der Gestank seines abgestandenen Schweißes in ihre Nase drang.
    Ihre Versuche, sich zu wehren, verloren an Kraft. Ihre Schläge
trafen nicht mehr ins Ziel. Sie wand sich vergebens.
    Schließlich gab sie auf. Fügte sich in ihre Niederlage. Sie
versuchte noch, ihr Innerstes vor seinen Angriffen zu schützen. Doch schon bald
gab es nichts mehr, was sie ihm hätte entgegensetzen können. Sie ließ alles
geschehen. In dem Moment, in dem ihre Seele starb, war sie einverstanden mit
dem, was passierte.

28
    Der Schlag kam so schnell, dass Martin
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