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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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ihrer hektischen Suche nach der richtigen Fließgeschwindigkeit.
    Die Scheite verbrannten wie Papier. Sie warf das allerletzte Stück Holz ins Feuer, fast trotzig entschlossen herauszufinden, was wohl passieren würde in dieser flüchtigen, gegenstandslosen Existenz, wenn alle heruntergebrannt, wenn alle Vorräte aufgebraucht waren. Ihr war klar, dass sie diese Kälte nicht überleben würde. Sie streichelte ihren Bauch und sah zu, wie das Holz zu Asche verglühte.
    Der Tod würde kommen; ein echter Tod, vollkommenes Vergessen. Aber sie bezweifelte, ob selbst der den Stachel der Einsamkeit, den Jakes Verrat ihr versetzt hatte, auslöschen könnte.
    Ihr Verstand begann zu dämmern, als das letzte Scheit zu Glut und Asche zerfiel. Doch dann sah sie sie. Gestalten kamen aus dem Schnee auf sie zu. Formen, Schatten näherten sich ihr. Mehr oder minder menschlich, kaum mehr als Umrisse vor dem sternenbeschienenen Schnee. Manche von ihnen hatten Trompeten. Einer legte die Trompete an die Lippen und blies einen lang gezogenen, tiefen Fanfarenton. Andere hatten silberne Pfeifen, in die sie nun bliesen. Weitere Trompeten erklangen. Die Gestalten kreisten sie ein und kamen immer näher.
    So würde es also enden. Womöglich waren es Dämonen, die sie holen kamen. Durch das Pfeifen und Trompeten hörte sie sie rufen, bis schließlich alle laut durcheinanderschrien. Sie kamen immer näher.
    Diese Wesen wurden von den Gestalten angeführt, die sie draußen vor dem Hotel gesehen hatte. Männer in schwarzer Kluft, die Münder halb hinter Schals verborgen. Die Raucher. Sie rauchten auch jetzt. Es war, als hätten sie nur darauf gewartet, dass die letzte Glut des letzten Scheits erlosch, um dann die Zigaretten wegzuwerfen und drohend näher zu kommen.
    Sie hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren, als sie schließlich nach ihr griffen, die Klauen nach ihr ausstreckten. Schläfrigkeit überkam und lähmte sie. Sollte sie nun so in die Hölle verschleppt werden, dann konnte sie keinen Widerstand mehr leisten. Sie dachte nur an Jake – und an das Baby, das sie in sich trug.

17
    Ich bin ganz tief unten. Und doch sehe ich alles von oben. Weiße Wehen sechseckiger Kristalle aus unendlich zartem Schnee. Die Kristalle greifen ineinander und bilden eine Mauer. Wenn ich durch diese Mauer komme. Wenn ich nur durchkomme.
    Dann verändern die Kristalle ihre Form und rieseln an meinen Augen vorbei wie ein hochkomplexer Maschinencode auf einem grauen Computerbildschirm. Nein, es ist DNA. DNA-Stränge, die vorbeifließen, vorbeischwimmen. Nein, es ist eine komplizierte mathematische Formal, winzige Nummernserien, die vor meinen Augen herumwirbeln. Und nun sind es weiße Baumwollsamen, die eine Brise vorbei trägt, aber in unglaublicher Zeitlupe. Es ist eine winzige Strömung, ein Zeitenstrudel. Da: Nun sind es wieder Schneeflocken.
    Bloß Schneeflocken.
    Ich habe Schneeflocken in den Ohren, im Mund, in der Nase, wie Kokain. Das habe ich einmal ausprobiert. Damit braucht mir keiner mehr zu kommen: Das ist nicht mal annähernd so schön, wie verliebt zu sein. Das Blut in meinen Adern ist gefroren, doch es singt von der Liebe.
    Ich höre, wie das Schwert eines Engels sirrend die Luft durchschneidet. Wusch, wusch, wusch . O kommet … Ich spüre, wie die Erde erzittert, die Winde ihre Richtung wechseln, das eisige Grauen der Klinge, der Funken eines Feuers in meinem Blut.
    Sehr angenehm. Ich kann loslassen.
    Ich falle und lande an einem Ort voller Menschen. Ihre Stimmen sind wie wunderbares plapperndes Hintergrundrauschen, und der Atem aus den vielen Mündern steigt mir entgegen und fängt mich auf, sodass ich sanft in ihrer Mitte lande. Viele Menschen kommen und gehen. Manche davon erkenne ich. Zwei Frauen stehen am Schalter. Irgendwoher kenne ich sie. Ich verstehe ihre Sprache. Ich weiß, wovon sie reden. Ein Mann geht an mir vorbei und zwinkert mir zu. Schelmisch. Ich kann sein Aftershave riechen. Drei uniformierte Damen hinter einem breiten Schalter kümmern sich um die Menschen, die davor in einer Schlange stehen. Eine ist sehr jung und hat die Haare zurückgekämmt und zu einem hübschen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie drückt sich einen Telefonhörer ans Ohr. Eine ältere Kollegin hat flammend rote Haare. Sie trägt eine Brille mit schwarzem Gestell und zieht gerade eine Kreditkarte durch das Lesegerät. Die dritte Kollegin unterhält sich mit einem Mann im grauen Anzug und muss sich anstrengen, ihn in dem ganzen Durcheinander zu verstehen. Die
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