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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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langsam heruntergefahren. Innerhalb dieser wenigen Minuten flackerten die lodernden Scheite hell auf, brannten, zischten, fielen auseinander und verglühten.
    Jake kam mit dem Cognac zurück. Ehe er ihr ein Glas davon reichte, zündete er zwei Kerzen an und stellte sie in der Nähe auf. Dann schenkte er jedem von ihnen ein Glas ein. Sie nippte daran. Das tat er auch, beklagte sich aber, dass es nach nichts schmeckte. »Der Preisliste zufolge könnten wir uns dieses teure Gesöff nie leisten. Du musst dich schon für mich daran erinnern.«
    »Was ist mit dem Fenster passiert, Jake?«
    »Erinnere dich für mich.«
    »Wie soll ich mich denn an Cognac erinnern?«
    »Versuch’s einfach.«
    Sie nahm ein Schlückchen. »Unser erster Kuss. Du warst ein bisschen angetrunken.«
    Er kostete den Cognac noch mal, ohne die Augen von ihr zu wenden. »Ich liebe dich, Zoe. So etwas Tiefes darfst du nie wegwerfen.«
    »Was?«
    »Was, was?«
    »Was du da gerade gesagt hast. Dass ich so etwas Tiefes nicht wegwerfen soll.«
    »Das habe ich gesagt?«
    »Ja.«
    »Ich erinnere mich nicht. Inzwischen kann ich mich oft nicht mehr daran erinnern, was ich zwei Sekunden vorher zu dir gesagt habe. Schau dir das Feuer an. Es kommt mir vor, als hätte ich gerade erst Holz nachgelegt, und jetzt ist es schon wieder heruntergebrannt.«
    »Hast du ja auch.«
    »Und schau dir mal die Kerzen an.« Er nickte und wies auf die gelbe, flackernde Flamme. Die Kerze brannte rasend schnell herunter, so schnell, dass man fast zusehen konnte, wie die Kerze schrumpfte, während das schmelzende Wachs vom brennenden Docht herunterperlte.
    »Was ist hier los, Jake?«
    »Die Zeit scheint sich … Unsere bisherige Zeit wird … Ich weiß es nicht, mein Herz, ich kann noch nicht mal einen Satz zu Ende denken. Ist das nicht komisch?«
    »Es macht mir Angst.«
    Er wendete sich von ihr ab und warf noch ein paar Holzscheite aufs Feuer. Schnell loderten sie auf. Die Dämmerung draußen war bereits der Dunkelheit gewichen. Sie lehnte sich auf ihrem Bett zurück und merkte, wie sie eindöste. Und sie war so erschöpft, dass sie sich nicht dagegen wehrte.
     
    Etwas weckte sie, das klang wie das Heulen eines Wolfes hoch oben in den Bergen. Die Luft an ihren Wangen war eisig kalt, eine steife Brise fuhr ihr durch die Haare und zerrte an ihnen. Wieder ertönte das tierische Heulen; ein anhaltendes lang gezogenes Jaulen, das klar, klagend, melancholisch und doch seltsam süß durch die kalte Nachtluft zu ihnen herübergetragen wurde. Sie setzte sich auf und wollte aus dem Fenster schauen, doch zu ihrer Verwunderung war das Fenster verschwunden.
    Und nicht nur das Fenster schien sich in Luft aufgelöst zu haben, sondern auch die Glastüren. Während sie geschlafen hatte, waren zwei Wände des Hotels vollständig bis auf die Grundmauern verschwunden. Sie schaute sich um und versuchte zu verstehen, was da vor sich ging.
    Zwei Wände umgaben sie noch immer schützend, aber eben nur zwei; in einer davon brannte hell das Feuer, Funken stoben fröhlich aus den knisternden Scheiten, Flammen tanzten lodernd um das Gitter. Doch die gesamte Südseite des Hotels, genau wie die östliche Wand, waren fort, wohingegen das Dach über ihrem Kopf noch da war. Nun hatte sie freie Sicht auf den Berghang, der dalag wie der Flügel oder die mächtige Schulter eines primitiven Naturgeistes.
    Jake war gerade dabei, eine weitere Kerze zu entzünden. Lächelnd sah er sie an. Ein Windhauch fegte um die geschützte Ecke, und er hielt seine Hand vor die Flamme, damit sie nicht flackerte. Und schon während sie aufflackerte, sah sie, wie schnell die Kerze herunterbrannte – schneller als gewöhnlich, schneller, als man erwarten würde.
    Wieder schallte ein Heulen von Osten her über die schneebedeckte Weite, in der sie keine Formen oder die Umrisse des Dorfs mehr erkennen konnte. Doch in der Dunkelheit glaubte sie für einen kurzen Augenblick, die kleinen roten Punkte zweier Tieraugen zu sehen; dann sah sie noch mehr kleine rote Glutherde. Einer der Glutpunkte leuchtete auf und erlosch dann. Dann noch einer. Und da ging ihr auf, dass es keine Augen waren, sondern die brennenden Zigaretten der rauchenden Männer. Sie waren näher an die offenen Wände des Hotels gerückt. Zwei von ihnen waren in die Hocke gegangen; ihre Finger berührten den Schnee zu ihren Füßen. Einer wies auf den Kamin. Die anderen schauten hoch zur Decke.
    »Da sind die Männer!«, sagte sie zu Jake. »Sie stehen gleich da
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