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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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blieben sie sehr lange, und Zoe fürchtete schon, dass irgendwas nicht stimmte, aber nach einer Weile regte Jake sich wieder, streichelte die Flanken des Hundes und kitzelte sie an der sensiblen Stelle hinter den Ohren. Irgendwann stand er dann auf und führte den Hund zu Zoe.
    Sadie lief zu ihr und warf sich neben Zoe in den Schnee. Doch als Zoe zu Jake aufschaute, war sein Gesicht nass vor Tränen.
    »Was ist los?«
    Er schüttelte den Kopf, hockte sich neben Zoe, umarmte sie und küsste ihren Hals.
    »Jake?«
    »Sadie hat mir alles erklärt.«
    »Alles?«
    »Ja. Sie hat mir alles erzählt.«
    »Was hat sie dir erzählt?«
    »Nun ja, sie ist ein Hund, und natürlich kann sie nicht alles ganz genau erklären, aber irgendwie hat sie mir einiges zu verstehen gegeben. Und das erzähle ich dir jetzt, aber ich muss sicher weinen, mein Liebling.«
    Sie hielt sein Gesicht in ihren Händen. Dicke Tränen, in denen sich die Schneekristalle spiegelten, liefen ihm schon jetzt über die Wangen. Sadie rückte an ihn heran und leckte ihm die Tränen aus dem Gesicht. Er lachte und streichelte sie.
    »Also, es ist so: Wir haben dem Tod ein Schnippchen geschlagen.«
    »Haben wir?«
    »Ja.«
    »Heißt das, uns kann nichts mehr passieren?«
    »Und konnte nie etwas passieren. Aber wir haben dem Tod ein Schnippchen geschlagen, und weil wir einander nicht loslassen wollten, haben wir ein bisschen Nachspielzeit herausschinden können.«
    »Nein.«
    »Doch. Wir haben ein bisschen Nachspielzeit bekommen. Der Traum des gegenwärtigen Moments wurde für uns unterbrochen. Wir sehen das alles durch die Nähte zwischen Leben und Tod.«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Unsere Liebe. Sie hat uns eine Nachspielzeit beschert. Sie hat dem Tod ein Schnippchen geschlagen.«
    »Aber das ist doch gut. Oder etwa nicht? Ist das nicht gut, Jake?«
    »Ja. Ja, das ist es.«
    Von irgendwo in den Bergen war ein einzelnes zitterndes Geräusch zu hören, schwach und weit entfernt, noch kaum hörbar, und obwohl sie es noch nicht wussten, hatten sie es doch beide ganz unleugbar gehört.
    »Nein«, sagte sie und schüttelte entschieden den Kopf. »Nein. Ich glaube, mir gefällt nicht, was du mir da sagst.«
    »Weil du weißt, was jetzt kommt?«
    »Nein.«
    »Doch. Du weißt genau, was kommt. Hör dir das an.«
    Ein anhaltendes rhythmisches Rasseln, wie gestoßenes Eis im Cocktailglas oder auch wie das asthmatische Keuchen einer alten Dampflok an einem steilen Hang, war aus weiter Ferne zu hören.
    »Was ist das, Jake?«
    »Du weißt, was das ist.«
    »Nein. Weiß ich nicht. Ich will es nicht wissen.«
    »Keine Sorge, alles ist gut. Alles ist gut.«
    »Wie kann denn alles gut sein?«
    »Ich halte dich hier fest. Ich dachte, ich halte dich warm, aber in Wahrheit halte ich dich hier fest. Unsere Liebe. Sie hält uns.«
    »Wir kommen hier zurecht. Bisher geht es uns doch gut. Und dem Baby.«
    »Nein. Es vergeht schon. Wir haben dem Tod ein Schnippchen geschlagen, aber nur für eine Weile.«
    Das rhythmische Rasseln, ein Zischen in der schneidenden kalten Luft, kam immer näher. Und dann erkannte sie das Geräusch.
    »Du verlässt mich, Jake? Du lässt mich hier ganz allein?«
    »Hör zu. Alles, was wir sind, haben wir auf dem aufgebaut, was wir zusammen erlebt haben. Wenn wir ein Glas Wein getrunken und gesagt haben, das schmeckt so oder so, dann schmeckte es auch so. Wir müssen einander helfen, uns daran zu erinnern.«
    Der Klang wurde immer lauter, und nun wurde er auch von so etwas wie einem Trommeln in der Erde begleitet, tief unter dem Schnee. Das Trommeln war Hufgetrappel, und das Rasseln war das Läuten von Schlittenglocken.
    »Nein. Bitte, lass mich nicht hier.«
    »Alles, unser ganzes gemeinsames Leben, war eine Kette von Freude und Leid, die jetzt für immer vorüber ist; vorüber, es sei denn, wir erinnern uns füreinander daran.«
    Das Klingeln des Schlittengeläuts wurde lauter, und das große schwarze Pferd tauchte aus der Dunkelheit auf, die gewaltigen Flanken glänzend vor Schweiß. Der Atem stieg ihm in der eisigen Luft in dicken Wolken aus den Nüstern, und es schwenkte den großen roten Federbusch, der wie ein Dolch die brüchige Luft durchschnitt, rot wie Wein in einem edelsteinbesetzten Becher oder wie Blut, das in einem Silberkelch aufgefangen worden war.
    »Du kannst mich nicht hier im Schnee allein lassen! Das machst du nicht. Du nicht.«
    »Heute habe ich das letzte Wort, mein über alles geliebtes Mädchen, und es gibt nur einen Sitz in der
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