Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
Vom Netzwerk:
Kutsche.«
    »Nein. Ich will davon nichts hören, Jake.«
    »Du brauchst nichts weiter zu tun, als nicht zu vergessen.«
    Sie packte ihn am Revers und hielt ihn mit eisernem Klammergriff fest. »Das lasse ich nicht zu.«
    »Das kannst du gut, nicht wahr, Zoe? Du weißt, wie man nicht vergisst?« Sein erhobener Zeigefinger schwebte über ihren zu Fäusten geballten Händen und berührte dann sanft ihre Stirn. »Du hältst einfach die Augen auf. Dann siehst du mich überall. Einfach überall.«
    Und damit löste er sich von ihr.
    Das riesige schwarze Pferd und der Schlitten hielten zügig auf sie zu, in einem Bogen, der ein wenig von ihnen beiden wegführte. Jake drehte sich um und marschierte entschlossen auf das Pferd zu, um ihm den Weg abzuschneiden.
    »Jake!«, schrie sie und rappelte sich auf, fassungslos und ungläubig, dass er ihr einfach den Rücken zukehrte und ging.
    Doch auch das hielt ihn nicht auf. Unbeirrt stapfte er weiter durch den Schnee. Das Pferd wurde langsamer, als es eine Anhöhe hinauftrabte. Jake war bereits etliche Meter weit gelaufen, ehe Zoe losrannte, hinter ihm her. Doch sie hatte keine Kraft mehr. Jake wollte das Pferd abfangen, doch auch wenn er bloß zügig darauf zuging und sie lief, kam es Zoe vor, als verliere sie immer mehr an Boden. Sie rannte nun, doch die widersinnige Entfernung zwischen ihnen wurde immer größer statt kleiner. Sie fiel hin und raffte sich wieder auf, rannte, rutschte auf dem Schnee aus, und ihre Füße glitten einfach unter ihr weg.
    Einen Moment lang schien es fast, als würde Jake das Pferd nicht mehr erreichen. Doch als er auf das Tier zutrat, von dessen Flanken Ehrfurcht gebietende Dampfwolken aufstiegen, schien es auf ihn zu warten und langsamer zu werden, vom Trab in einen schnellen Schritt zu wechseln. Und in diesem Moment marschierte Jake auf den Schlitten zu, trat auf die Stufe, und von dort hievte er sich in die sichere Höhle der schwarzen Lederpolster. Das Pferd warf den Kopf in den Nacken und fiel wieder in einen flotten Trab, und als es auf eine ebene Spur kam, lief es noch schneller.
    Und doch rannte Zoe noch immer hinterher, schrie nach Jake und versuchte, sie einzuholen. Einen Augenblick schaffte sie es, bis auf die Höhe des gigantischen Schlittens heranzukommen, und im Laufen griff sie danach, doch das Trittbrett schien von ihr weg in den Himmel zu wachsen, während sie nebenher stolperte, und die Tür des Schlittens entzog sich ihren ausgestreckten Fingern. Der Schlitten schien immer größer zu werden, bis sie nicht einmal mehr das Trittbrett erreichen konnte, oder womöglich schrumpfte sie auch, bis sie irrwitzig klein war. Sie fiel im Schnee auf die Knie und weinte nach Jake.
    Sadie, die neben dem Schlitten herlief, blieb stehen und schaute sich kurz nach ihr um. Dann flog der Hund leicht wie eine Feder über den Schnee hinter seinem Herrn her und hatte den Schlitten schon wieder eingeholt, ehe der und das Pferd in der wirbelnden Dunkelheit verschwanden.

16
    Zoe war wie betäubt vor Schreck und Kälte. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, Jake könne sie einfach im Stich lassen. Als sie sich umschaute, sah sie nichts als eine unendlich weite schneebedeckte Einöde mit Berghängen auf der einen Seite und Nadelbäumen wie dunkle Seen auf der anderen. Das Dorf und mit ihm sämtliche Annehmlichkeiten und Lebensnotwendigkeiten, die es geboten hatte, waren verschwunden. Ihr wurde klar, dass sie nun ganz allein war; allein und schwanger.
    Langsam stapfte sie zurück zur flackernden Glut des Feuers, doch auch die erinnerte sie nur daran, wie durchgefroren sie war. Es war kaum noch ein halbes Dutzend Scheite übrig, der allerletzte Rest ihrer Vorräte. Sie nahm einen der Holzscheite, doch der fühlte sich in ihren Händen leicht und gegenstandslos an, und als sie ihn in die Glut legte, loderte er sofort auf und brannte unnatürlich schnell ab. Zusammengekauert hockte sie sich ans Feuer. Sie fühlte sich schwach und zog sich die Bettdecke um die Schultern, zitternd vom Schmerz der Kälte, die ihr mit kristallenen Fingern über das Herz kratzte.
    Sie starrte hinauf in die Sterne am Winterhimmel. Noch nie im Leben hatten sie so zahlreich gewirkt, so unergründlich. Die Sterne schauten nicht zu ihr herab. Sie schienen sich vielmehr fast abzuwenden, desinteressiert und unerbittlich.
    Das brennende Holzscheit barst und zerbrach. Sie legte zwei weitere Scheite aufs Feuer und sah zu, wie sie rasend schnell verbrannten. Die Zeit verging wie im Flug auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher