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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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Leute warten geduldig vor dem Schalter, um sich an-oder abzumelden.
    Ich sehe den Concierge in seiner schicken Uniform in Rotbraun und Grau. Er sieht mich und schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann winkt er mir zu. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Wieder winkt er mir zu, winkt mir zu, durch das Gedränge zu ihm zu kommen. Aber ich kann mich nicht rühren. Der Concierge flüsterte einem anderen Mann etwas zu, dann nimmt er einen Umschlag von seinem hellen Holzpult. »Madam!«, ruft er mir zu. »Madam!«
    Das ist nicht für mich , will ich ihm am liebsten sagen.
    Ich habe Angst vor ihm. Sein kahler Kopf wird von der gleißend hellen Deckenbeleuchtung angestrahlt. Auf seiner glänzenden Stirn stehen Schweißperlen. Er bahnt sich den Weg durch die Menschenmenge zu mir. »Madam!«, ruft er wieder.
    Ich nehme all meinen Mut zusammen und sage mit klarer Stimme: »Aber das ist nicht für mich.«
    »Aber Madam«, sagt der Concierge, der mich nun gestellt hat und mir den Umschlag in die Hand drückt, »der ist ganz bestimmt für Sie.« Er steht da, mit einem liebenswerten Lächeln auf den Lippen, als warte er darauf, dass ich den Umschlag öffne.
    Ich habe Angst, ihn aufzumachen. Aber mit zitternden Fingern reiße ich ihn dann auf und greife hinein. Doch da ist nichts. Wobei, nichts stimmt nicht ganz, aber es ist nichts weiter drin als bloß eine Karte. Sie sieht ein bisschen aus wie eine Tarotkarte, aber nicht wie die Tarotkarten, die ich kenne. Darauf ist ein Baum abgebildet. Die Worte darunter lauten: L’arbre de Vie . Der Baum des Lebens, das weiß ich. Aber er sieht nicht aus wie die Bäume, die ich kenne. Er sieht eher aus wie ein Weihnachtsbaum, mit seltsamen Gegenständen und aberwitzigem Obst geschmückt.
    Ich schaue auf, weil ich den Concierge fragen möchte: »Was hat das zu bedeuten?« Doch er ist verschwunden. Alle sind verschwunden, alles, jeder Einzelne. Nichts und niemand ist mehr da.

18
    Als Zoe die Augen öffnete, sah sie nichts als endlose weiße Weite. Sie spürte die Wärme wie Milch und Honig in ihren Adern. Ein Geruch nach Desinfektionsmitteln. Ein hell erleuchteter Raum. Die endlose weiße Weite von Baumwollbettwäsche und Kissenbezügen.
    Eine Krankenschwester schaute sie an. Sie blinzelten beide. Dann verschwand die Schwester eilig und kehrte innerhalb weniger Sekunden mit einer zweiten Frau im Schlepptau zurück, die einen weißen Arztkittel trug.
    Die Frau beugte sich über sie. »Zoe?«, fragte sie.
    »Ja.«
    »Wissen Sie, was passiert ist?« Sie sprach mit einem starken französischen Akzent.
    »Lawine.«
    »Ja.«
    »Mein Mann?«
    Die Ärztin setzte sich zu ihr auf das Bett und nahm ihre Hand. »Wir haben ihn noch nicht gefunden. Sie wurden gerade noch rechtzeitig gefunden. Es tut mir so leid.«
    Zoe legte den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund zu einem stummen Klageschrei und ließ den bitteren salzigen Tränen freien Lauf. Geduldig wartete die Ärztin, dass das Schluchzen nachließ. Aber es hörte nicht auf. Sie sagte ein paar Worte auf Französisch zu der Krankenschwester, die eine Spritze holte und sie der Ärztin reichte.
    »Nein«, sagte Zoe. »Nein. Ich will nicht wieder einschlafen. Das will ich nicht.«
    Die Ärztin nickte. Sie legte die Spritze in eine Schale. »Wie Sie möchten. Wenn Sie es doch wollen, sagen Sie mir Bescheid.«
    Zoe schaute sich in dem Zimmer um. Die Ärztin und die Krankenschwester starrten sie an, fast als erwarteten sie, dass sie etwas sagte.
    »Ihnen kommt es vielleicht nicht so vor«, sagte die Ärztin, »aber Sie haben großes Glück gehabt. Sehr großes Glück sogar. Sie standen an der Schwelle zum Tod. Wissen Sie, dass Sie schwanger sind?«
    Zoe nickte.
    »Dem Baby geht es allem Anschein nach gut«, sagte die Ärztin. »Wir werden das weiter beobachten.«
    Zoe schnürte sich der Hals zu. Heftige Schluchzer stiegen in ihr auf, doch sie schluckte sie mit aller Gewalt herunter.
    »Wie geht es Ihnen? Körperlich, meine ich?«
    Zoe schüttelte den Kopf. Ihr Schmerz war körperlich.
    »Von ein paar blauen Flecken abgesehen, habe ich nichts finden können«, erklärte die Ärztin. »Das Rote in den Augen geht nach einer Weile von selbst wieder weg. Das kommt vom Druck des Schnees, unter dem Sie begraben waren.«
    Mühsam rang sie sich ein paar Worte ab. »Darf ich mal sehen?«
    Die Ärztin bat die Krankenschwester, einen Spiegel zu holen.
    Zoe hielt sich den Spiegel vors Gesicht. Das Weiß ihrer Augen war tatsächlich rot und blutunterlaufen.
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