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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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nahe an dem dichten Vorhang aus Bäumen, geriet eine kleine Schneeplatte unter ihren Füßen ins Rutschen. Es war fast, wie auf einem bockenden Pferd zu sitzen, weshalb sie entlang der Falllinie fuhr, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie war noch keine dreihundert Meter weit gekommen, als das Wispern ihrer Skier von einem dumpfen Grollen übertönt wurde.
    Aus den Augenwinkeln sah Zoe, dass Jake am Rand der Piste angehalten hatte und den Hang nach oben spähte. Irritiert von ihrem Fehlstart machte sie noch ein paar ungelenke Schwünge, ehe sie zum Stehen kam und sich umdrehte, um nach ihrem Mann zu sehen. Das Grollen wurde lauter. Oben am Hang stand eine Säule, die aussah wie wirbelnder grauer Rauch, der sich entfaltete wie seidige Banner, wie Herolde einer Schneearmee. Es war bildschön. Sie musste lächeln.
    Doch dann gefror ihr das Lächeln auf den Lippen. Jake kam auf sie zugeschossen wie ein Pfeil. Mit wächsernem Gesicht schrie er ihr etwas zu, während er auf sie zustürmte.
    »Los, rüber! Schnell rüber!«
    Und da wusste sie, dass es eine Lawine war. Jake bremste ab und fuchtelte wild mit einem seiner Skistöcke herum. »Schnell, zu den Bäumen! Klammer dich an einen Baum!«
    Das Grollen war zu einem Brüllen angeschwollen, das in ihren Ohren toste und Jakes Worte erstickte. Sie stieß sich ab und raste senkrecht den Hang hinunter, suchte Halt, versuchte, Abstand zu gewinnen zu der brüllenden Wolke, die sich hinter ihr brach wie ein Tsunami im Meer. Gezackte schwarze Spalten taten sich vor ihr im Schnee auf. Sie drehte die Skier und wollte den Rand der Piste ansteuern und zu den Bäumen fahren, aber es war zu spät. Sie sah, wie Jakes schwarzer Skianzug an ihr vorbeigeschleudert wurde wie Wäsche im Waschsalon, während die gewaltige Masse aus Schnee und Dunst ihn mitriss. Dann wurde auch sie von den Füßen gekegelt, durch die Luft gewirbelt und kugelte und trudelte und rollte hilflos in der weißen Flut mit. Ihr fiel ein, dass sie mal gehört hatte, man solle die Arme um den Kopf legen. Kurz war es, als würde sie in einer Waschmaschine durchgeschüttelt, ein paarmal Hals über Kopf herumgedreht und dann schließlich mit voller Wucht auf den Boden geschleudert, dass ihre Rippen knacksten. Dann war ein seltsames Raspeln zu hören, wie das tausendfach verstärkte Nagen von Millionen Termitenkiefern, die Holz zerbissen. Das Geräusch verstopfte ihr die Ohren und dämpfte alles andere, und dann kam die Stille, das vollkommene Weiß verblasste zu Grau, und schließlich wurde alles schwarz.
     
    Vollkommene Stille, vollkommene Dunkelheit.
    Sie versuchte, sich zu bewegen, aber es ging nicht. Sie spürte, wie ihr die Luft wegblieb, weil Mund und Nasenlöcher mit komprimiertem Schnee verstopft waren. Mühsam schaffte sie es, etwas von dem Schnee aus dem Rachen hochzuhusten. Sie spürte, wie ihr der Schnee kalt und nass hinten die Nase hinunterlief. Wieder hustete sie und konnte dann endlich einen Atemzug Luft einsaugen.
    Eigentlich hatte sie gedacht, völlig von Weiß umgeben im Schnee aufzuwachen, doch es war alles schwarz. Sie konnte zwar atmen, sich aber kaum bewegen. Sie versuchte, die Finger in den ledernen Skihandschuhen zu strecken. Nur der Hauch einer Bewegung war möglich. Ihre Hände mussten etwa zwanzig oder dreißig Zentimeter vor ihrem Gesicht feststecken. Die Finger waren in den Handschuhen weit gespreizt. Sie versuchte, damit zu wackeln, aber mehr als minimales Recken innerhalb der Handschuhe war nicht drin. Sie streckte die Zunge raus und spürte kalte Luft.
    Erfolglos versuchte sie, sich aufzurichten, und sofort überkam sie eine schreckliche Panik; sie fing an, schnell und heftig zu atmen, und spürte ihren eigenen hämmernden Herzschlag. Dann ging ihr auf, dass ihr womöglich bloß eine kleine eingeschlossene Luftblase blieb, die nur für eine begrenzte Zeit reichte, also bemühte sie sich, ganz langsam zu atmen, und befahl sich, ruhig zu bleiben.
    Du steckst in einem Schneegrab, bleib ganz ruhig.
    Sachte atmete sie ein und aus. Ihr Herz hörte auf, panisch zu klopfen.
    Ein Schneegrab? Und das soll jetzt irgendwie beruhigend sein?
    Es kam ihr fast vor, als liefe ein Riss durch sie, weil der Teil von ihr, der in heillose Panik ausbrechen wollte, mit dem anderen Teil diskutierte, der sich im Klaren darüber war, dass sie, wenn sie überleben wollte, jetzt ganz ruhig und gefasst sein musste.
    Bist du jetzt ruhig? Na, bist du? Bist du? Gut, wenn du dich wieder beruhigt hast, ruf nach deinem
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