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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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Schleppspur sein.«
    »Meinst du, das ist Zeitverschwendung?«
    »Wir könnten uns selbst nicht mehr im Spiegel in die Augen sehen, wenn wir es nicht versuchen. Könnte doch sein, dass er verletzt ist und irgendwo hilflos daliegt.«
    Zoe nahm ihre lavendelfarbene Wollmütze und setzte sie wieder auf. »Okay. Dann komme ich mit.«
    »Nein. Du bist völlig erschöpft. Und mit den Skiern geht es viel schneller.«
    »Ich möchte aber mitkommen.«
    »Zoe, ich sage dir das nur ungern, aber du siehst furchtbar aus. Deine Augen sind auch ganz rot und blutunterlaufen. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Vielleicht kommt das vom Druck des Schnees. Aber du bist ziemlich wackelig auf den Beinen. Ich vergewissere mich einfach, dass niemand am Lift liegt. Sollte er unter dem Schnee begraben sein, kann ich ohnehin nichts mehr für ihn tun. Okay?«
    Zoe blinzelte. So gut kannten sie sich nach dieser langen Zeit. Beide hatten einen ausgeprägten Sinn dafür, immer das Richtige tun zu wollen, und sie wusste, Jake würde sich nicht beirren lassen und tun, was er für richtig hielt.
    Jake hatte immer einen kleinen Schraubenzieher in der Gürteltasche, den er zum Einstellen der Skibindung benutzte, und mit dem machte er sich nun an den Skiern zu schaffen, um sie an seine Stiefel anzupassen.
    Jake drückte ein paar Knöpfe, bis die Maschinerie sich wieder in Gang setzte und das stählerne Rad über ihnen anfing, sich zu drehen. Zoe ging nach draußen, dorthin, wo die Ankerbügel sich in der Warteschleife stapelten, zog eine der Stangen heraus, hielt sie fest und wartete dann, bis Jake zum Lift gestapft war. Sie reichte ihm den Bügel, und er nahm ihn wortlos entgegen. Plötzlich sträubte sich alles in ihr dagegen, dass er sie allein ließ. Sie sah zu, wie der einsame Schlepplift ihn die Piste hinauf und außer Sichtweite zog. Es schneite immer noch. Sie ging wieder nach drinnen in die Hütte.
    In der Hütte war es warm, aber sie zitterte. Sie versuchte, die Augen zuzumachen, aber dann überfielen sie jedes Mal mit Wucht die grässlichen Bilder der Lawine, die sie mitriss und einschloss. Sie fuhren zischend auf sie zu wie bissige Schlangen. Ihr krampfte sich der Magen zusammen.
    Sehr bald schon wünschte sie sich, sie hätte Jake nicht gehen gelassen. Ihr kam der unerträgliche Gedanke, es könnte womöglich einen weiteren Lawinenabgang geben. Beunruhigt stand sie auf und spähte durch die schmutzige Scheibe der Hütte nach draußen. Dann setzte sie sich wieder.
    Jake war schon eine ganze Weile weg. Ihr war heiß. Sie befühlte mit der Hand ihre Stirn und fragte sich, ob sie womöglich Fieber hatte. Ganz unerwartet entfuhr ihr ein Schluchzen. Wieder stand sie auf und ging zum Fenster, aber sie sah nichts weiter als das endlose undurchdringliche Weiß der Berge und der schneebeladenen Bäume. Sie spitzte die Ohren und lauschte. Die Welt draußen war totenstill. Die Hütte kam ihr klein und schutzlos vor.
    Sie war fast eingenickt, als plötzlich eine graue Gestalt vor dem Fenster auftauchte. Es war Jake, der gerade aus der Skibindung trat. Er schlüpfte in die wohltuend warme Hütte, klopfte die Stiefel ab und schüttelte den Kopf.
    »Gar nichts?«
    »Ich habe jeden Pfeiler gründlich abgesucht. Sollte jemand da draußen sein, dann liegt er tief unter dem Schnee begraben.«
    »Gruseliger Gedanke.« Zoe brach in Tränen aus.
    Jake legte den Arm um sie und küsste sie. »Pscht«, sagte er. »Pscht. Du weißt doch gar nicht, ob da draußen überhaupt jemand ist! War doch ohnehin ziemlich unwahrscheinlich.«
    »Ich weiß. Lass mich einfach weinen. Ich weine um uns. Das hätten wir sein können. Das ist bloß die Erleichterung.« Sie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab.
    »Hör mal«, meinte Jake, nachdem er sie eine Weile einfach nur im Arm gehalten hatte, »ich habe mal wieder eine meiner grandiosen Ideen. Wir könnten mit den Skiern runterfahren. Das geht.«
    »Mit einem Paar Ski?«
    »Du stellst dich hinten drauf und hältst dich an mir fest. Dann fahren wir ganz langsam in großen Bogen die Piste runter. Womöglich fallen wir ein paarmal auf die Nase, aber immer noch besser, als sich durch den Schnee zu kämpfen. Ehrlich, stellenweise geht er mir bis zu den Eiern.«
    Und das machten sie dann auch. Sie fuhren sehr langsam, aber es war nicht allzu schwer, und sie kamen heil unten an. Die gesamte Piste, bis ganz runter ins Tal, war menschenleer, und es war eindeutig, dass die zuständigen Behörden die Leute evakuiert und
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