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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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unterdrücken.
    Neben dem Aufzug hing ein fades abstraktes Bild an der Wand, das sie zum Lachen reizte. Das alberne Bimmeln des Aufzugs, der im dritten Stock anhielt, brachte sie ebenfalls zum Lachen. Diese nichtssagende Dekoration, die in einem so krassen Gegensatz stand zu der lebensbedrohlichen Situation, kopfüber im Schnee begraben zu werden, hatte irgendwie etwas Absurdes. Über die Spiegel im Aufzug musste sie auch lachen. Der Hinweis auf das zulässige Höchstgewicht; die Auslegware auf dem Boden; der Notrufknopf. Alles erschien ihr so grotesk, dass sie in schallendes Gelächter ausbrechen wollte.
    »Was?«, fragte Jake. »Was denn?«
    Worauf sie sich gegen den Spiegel im Lift sinken ließ, sich vor Lachen krümmte, sich den Bauch hielt und haltlos losröhrte.
    »Nein, ich find’s super, dass du dich so toll amüsierst«, meinte Jake. »Geht mir ja genauso. Fast. Wir wären beinahe draufgegangen. Das ist wirklich sehr lustig. Du hast einen an der Waffel.«
    Damit sie aufhörte zu lachen, drückte er sie gegen die Wand des Fahrstuhls und steckte ihr die Zunge in den Mund. Sie spürte, wie ihr Zucken sich in Jake entlud wie elektrische Hochspannung. Sie spürte ihn hart an ihrem Körper. Und sie wollte ihn auch schon wieder.
    Der Aufzug hielt an der Rezeption, und die Türen öffneten sich. Zoe schubste ihn weg, warf die Haare zurück und strich sich die Kleider glatt, dann stieg sie aus dem Lift.
    Die Mühe hätte sie sich sparen können. Es war immer noch keine Menschenseele zu sehen.
    Gemeinsam gingen sie zur Empfangstheke. Jake haute auf die Klingel. »Kundschaft!«, rief er und schnitt eine Grimasse.
    »Probieren wir’s im Restaurant.«
    Also gingen sie an dem adretten, aber unbesetzten hellen Holzpult des Concierge vorbei und schlenderten zum Hotelrestaurant. Normalerweise war es tagsüber eher ruhig im Speiseraum, da die meisten Gäste erst abends zum Essen gingen, aber ein, zwei Tische waren eigentlich immer besetzt.
    Heute nicht.
    Überall brannten die Lichter, aber sämtliche Tische waren leer. Ein Hinweisschild am Eingang zum Speisesaal machte die Gäste darauf aufmerksam, man solle sich vom Oberkellner an einen Tisch führen lassen. Aber da waren weder Oberkellner noch sonst irgendwelche Kellner. Das Restaurant war perfekt hergerichtet: gestärkte Leinentischdecken und -servietten, schwere Kristallgläser, Silberbesteck, alles makellos eingedeckt. Leise Musik dudelte von irgendwo durch den Raum.
    Jake stand da und stemmte die Hände in die Hüften. Ratlos schaute er sich um und marschierte dann in Richtung Küche. Entschieden trat er durch die Schwingtüren, Zoe auf den Fersen.
    Vom Küchenpersonal keine Spur. Auf den sauberen Edelstahlarbeitsflächen lagen frisch geschnittenes Gemüse und Rindfleischstreifen zur Zubereitung des Mittagessens bereit. Auf der anderen Seite der Küche war ein Geschirrspüler in Industriegröße mit schmutzigem Frühstücksgeschirr und -besteck beladen. Jake öffnete die Tür der gigantischen Gefrierkombination, und ein Schwall eisigkalter Luft wehte ihm entgegen. Nachdem er kurz einen Blick hineingeworfen hatte, machte er die Tür wieder zu.
    Zoe legte ihm eine Hand auf den Arm. »Meinst du, wir sollten lieber verschwinden?«
    »Verschwinden?«
    »Aus dem Hotel.«
    »Und warum das?«
    »Also, ich denke mir das so: Das Hotel liegt gleich am Fuß der Lawinenpiste. Es liegt genau im Pfad des rutschenden Schnees. Nach der Lawine von heute Morgen wurden sämtliche Bewohner evakuiert. Schau dich doch nur mal um, die müssen innerhalb von fünf Minuten das Haus geräumt haben. Ich fürchte, hier sind wir nicht sicher. Ich glaube, wir sollten lieber gehen.«
    Jake blinzelte. »Himmel. Okay, lass uns die Jacken holen. Wir laufen ins Dorf.«
    »Und wir sollten beten, dass das Ding uns nicht gleich auf den Kopf fällt.«
    »Bete du ruhig. Ich lasse mich einfach von der Sorge zerfressen.«
    »Ach, hör doch auf.«
     
    Also verließen sie das Hotel und marschierten in den kleinen Ort Saint-Bernard. Normalerweise gab es einen Shuttle-Service: Der Minibus, der jede halbe Stunde fuhr, brauchte für die Strecke gerade mal sechs oder sieben Minuten. Zu Fuß dauerte es ungefähr eine halbe Stunde.
    Die Straße war menschenleer. Es schneite immer noch. Das Licht hatte sich verändert, und der Schnee auf dem Boden leuchtete schaurig bläulich-grau. Sämtliche Fußstapfen und Reifenspuren waren schon fast unter frischem, weichem, fedrigem Schnee verschwunden.
    Am Abend zuvor waren sie zu
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