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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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Fuß vom Hotel in das Dorf gegangen. Es war ein unvergesslicher Spaziergang gewesen. Die verschneiten Gassen waren von Fichten und Tannen gesäumt, die ihren harzigen Duft verströmten, und die Straßen waren vom warmen orangefarbenen Licht der schmiedeeisernen Lampen beleuchtet, die alle hundert Meter am Straßenrand standen. Unterwegs waren sie von einem riesengroßen schwarzen Pferd überholt worden, das einen Schlitten mit einem fröhlichen, aber leicht verschämt wirkenden Touristenpaar zog. Dampf war von den Flanken des gewaltigen Tieres aufgestiegen, und Atemwolken quollen aus seinen Nüstern, als es durch den dichten Schnee trabte. Das Pärchen im Schlitten hatte ihnen schüchtern zugewinkt.
    Doch heute schien ihnen der Weg plötzlich gefährlich. Sie marschierten flott, ohne zu reden, wobei beide mit gespitzten Ohren auf die Geräusche des Berges lauschten. Denn es gab Geräusche; bedrohlich, warnend. Ein entferntes Krachen, ganz hoch oben, wie ein einzelner Schuss. Ein Knarzen und Knacken. Eine Art Stöhnen, wie ein gewaltiges Gewicht, das sich auf dem Berg verschob. Ein leichtes Lüftchen, das durch den Schnee zu einem Seufzen wurde. All das konnten Vorboten für abgehende Schneebretter sein.
    Sie sprachen kein Wort miteinander, aber Zoe nahm Jakes Hand, und sie gingen noch etwas schneller. Das Knirschen und Quietschen ihrer Schneestiefel war auch nicht gerade beruhigend. Selbst diese kleinen Geräusche schienen fast wie ein Affront gegen den Berg, wie das Quietschen einer Maus vor einem Elefanten. Eine Herausforderung.
    »Spürst du den Druck?«, fragte Zoe. »Der in der Luft liegt? Fast kommt es einem vor, als könne man das Gewicht des Schnees spüren, der auf den Bergen lastet.«
    »Das bildest du dir bloß ein. Lauf einfach weiter.«
    »Das bilde ich mir nicht ein. Die Luft ist schwer wie Blei. Als müsste gleich was passieren.«
    »Es wird aber nichts passieren.«
    »Und warum haben sie dann das Hotel geräumt, Dumpfbacke?«
    »Reine Vorsichtsmaßnahme. Man müsste aber schon verdammtes Pech haben, um eine Lawine zu überleben und dann von einer anderen begraben zu werden, oder?«
    »Ja. So ein verdammtes Pech hat man manchmal.«
    »Aber wir heute nicht.«
    »Beschützt du mich davor, Jake?«
    »Mit meinen bloßen Händen.«
    Über ihnen war ein unverwechselbares Ächzen zu hören, das Geräusch von gleitendem Schnee, als würden riesige Metallbleche zusammengefaltet.
    Zoe blieb wie angewurzelt stehen. »O Gott.«
    »Nicht so schlimm. Komm weiter, nicht stehen bleiben. Das ist bloß der Schnee, der sich verschiebt.«
    »Ach wirklich? Genau das befürchte ich ja – dass der verfluchte Schnee sich verschiebt! Schneeverschiebungen nennt man schließlich Lawinen, oder nicht?«
    »Pst! Nicht so laut. Ich meine damit, der Schnee verschiebt sich andauernd. Darum gibt es auch die Schneeraupen auf der Piste. Weil der Schnee verweht wird und sich auftürmt. Das heißt ja nicht, dass er gleich ins Tal abgeht.«
    »Ja? Und woher willst du das wissen? Du bist Tierarzt. Seit wann bist du Experte für Schneeverschiebungen? Du redest doch Müll.«
    »Stimmt genau, ich rede nur Müll.«
    »Und warum? Warum redest du so einen Müll?«
    Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Das mache ich manchmal, wenn ich Schiss habe, okay? Dann rede ich Müll. Eine sehr effektive Methode, damit die Lage nicht mehr ganz so finster und hoffnungslos aussieht. So, bist du jetzt zufrieden, dass du mich endlich durchschaut hast? Können wir jetzt bitte weitergehen, nachdem du mein menschliches Versagen bloßgestellt hast? Ja?«
    Wieder ächzte der Schnee oben auf den Berghängen. Und dann ein anderes, unerklärliches Geräusch wie ein Fischernetz, das ins Meer geworfen wurde. Worauf sie die Hand unter seinem Arm durchschob. So gingen sie dann untergehakt durch das sanfte orangefarbene Leuchten der Straßenlaternen.
     
    Kein Mensch war auf der Straße. In der Nähe des Dorfkerns stand eine ganze Reihe geparkter Autos, aber die hatten allesamt eine Schneehaube wie mit Zuckerguss glasierte Torten; der Niederschlag eines ganzen Tages. Eine gespenstische Ruhe lag über dem Ort. Sie passierten ein anderes kleines Hotel namens Petit la Creu. Der Schnee türmte sich vor der Tür zu einer kleinen Wehe.
    Sie drückten die Tür auf und gingen hinein, wobei der Zugluftfänger schwer über den Boden schleifte. Im Foyer war es warm, fast stickig. Überall brannten die Lichter, aber die Rezeption selbst war verwaist. Genau wie in ihrem
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