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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille
Autoren: Graham Joyce
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kam, lag sie vor dem Feuer in der Hotelhalle. Jake stützte ihren Nacken und versuchte, ihr etwas Wasser einzuflößen, das ihr über das Kinn lief. Sie setzte sich auf, schaute nach links und nach rechts, noch immer im Klammergriff der Angst und bereit, aufzuspringen und wegzurennen.
    »Du bist umgekippt«, erklärte Jake.
    »Ich habe einen von ihnen gesehen.«
    »Du hast geschrien und bist umgekippt.«
    »Hast du ihn gesehen?«
    »Nein.«
    »Er war so nahe, ich hätte ihn anfassen können. Ich hätte die Hand ausstrecken und ihn berühren können.«
    »Da war niemand, mein Liebstes.«
    »Ich habe ihn gesehen.«
    »Ich weiß nicht, was du gesehen hast. Auf jeden Fall hat es dir eine Heidenangst gemacht. Wenn man Angst hat, sieht und hört man eine Menge. Es ist niemand da. Ich habe mich gründlich umgesehen. Da ist niemand.«
    Sie zitterte und fing wieder an, mit den Zähnen zu klappern.
    »Dir ist kalt. Ich mache schnell ein Feuer für dich.«
    Sie zog sich die Bettdecke um die Schultern, und er legte ihr eine zweite auf die Knie. Sie zitterte wie Espenlaub. Jake machte sich sofort an die Arbeit und haute mit der Axt schier unglaublich dünne Kienspäne, die er dann in der Asche im Kamin platzierte. Die dünnen Holzspäne zündete er an und errichtete fachmännisch eine Pyramide aus größeren Scheiten um das brennende Holz herum. Bald loderte das Feuer und verbreitete wohlige Wärme.
    »Ist dir gar nicht kalt, Jake?«
    Er gab keine Antwort. Stattdessen kümmerte er sich weiter um das Feuer.
    Nach einer Weile hörte sie endlich auf zu zittern. Zu Jake sagte sie, sie müsse zur Toilette, aber in Wahrheit musste sie unbedingt überprüfen, ob sie noch schwanger war. Sie hatte furchtbare Angst, durch den Schreck eben das Baby verloren zu haben. Inzwischen hatte sie überall im Hotel ihre Schwangerschaftstests versteckt. Ein paar lagen hinter der Theke an der Rezeption, also tappte sie in ihre Bettdecke gewickelt hin, nahm einen und ging damit zur Toilette, wo sie die Tür hinter sich abschloss.
    Sie wickelte das Teststäbchen aus, zog die Hose herunter und hielt das Stäbchen unter sich, um dann darauf zu urinieren. Sie wartete. Zwei dünne, aber deutlich sichtbare blaue Linien erschienen. Sie wusste, dass es eigentlich noch zu früh war, um mit Sicherheit sagen zu können, ob sie durch den Schreck, die Ohnmacht und den Sturz ihr Baby verloren hatte, weshalb sie nun immer wieder würde testen müssen, doch fürs Erste war sie beruhigt.
    Dieses Baby wird es schaffen, sagte sie sich. Dieses Baby wird es schaffen.
    Sie warf das Stäbchen in den Müll, zog Höschen und Jeans hoch und wollte sich dann die Hände waschen. Der Wasserhahn keuchte und ächzte, aber es kam kein Wasser heraus. Sie versuchte es an einem der anderen Waschbecken, drehte beide Hähne auf, aber nichts passierte. Entweder war die Wasserversorgung unterbrochen oder die Leitungen waren eingefroren. Sie hörte die in den Leitungen eingeschlossene Luft pfeifen, legte das Ohr an die Öffnung und lauschte. Die Luft in der Leitung klang so sehr nach Musik, dass sie die Ohren spitzen und sich selbst davon überzeugen musste, dass es keine Musik war, die da aus den Hähnen tropfte. Und dann war sie sich plötzlich sicher, dass es eben doch Musik war, kaum hörbare Musik, die durch die Leitungen schallte. Die Musik war orchestral, wurde lauter und leiser, und dann hörte man doch wieder nur die Luft.
    Sie öffnete die Tür zu den Toiletten und stieß mit Jake zusammen.
    »Ach?«
    »Alles okay? Du warst ziemlich lange weg.«
    »Ja, mir geht’s bestens.«
    »Alles okay?«
    »Ja. Alles.«
    Er musterte sie ganz seltsam. »Komm, wir gehen wieder ans Feuer.«
    Jake legte den Arm um sie und versuchte, sie ein bisschen warm zu rubbeln, während er sie zum Kamin zurückführte. Dort richtete er ihr ein Bett, legte Holz nach und beklagte sich darüber, wie schnell das Feuer herunterbrannte, sodass man es ständig im Auge behalten musste. Zoe kauerte sich so nahe an das Feuer, wie es ging, ohne dass ihre Decke in Flammen aufging.
    Dann erzählte sie ihm vom Wasser. »Vielleicht sind die Leitungen eingefroren.«
    »Vielleicht haben die Generatoren im Dorf auch schlicht und ergreifend den Geist aufgegeben und pumpen kein Wasser mehr. Mach dir darüber keine Sorgen. Dann trinken wir eben Rotwein.«
    Jake trank schon Rotwein. Doch ganz gleich wie viel er auch davon herunterstürzte, betrunken schien er nicht zu werden. Zoe hielt sich lieber etwas zurück. Bisher hatte sie
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