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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann
Autoren: Jo Nesbø
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unter dem Rock und die praktischen Stiefeletten widerlegten jeden Verdacht, sie könnte diese Wirkung kalkuliert haben. Statt sich wieder zu setzen, blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen, als hätte sie sich erhoben, um die anderen zu betrachten, und nicht umgekehrt. Harry schätzte, dass sie sich ihre Kleidung und ihr Auftreten an diesem ersten Tag gut überlegt hatte.
    “Katrine war vier Jahre bei der Kriminalpolizei in Bergen, wo sie hauptsächlich mit Sittlichkeitsverbrechen zu tun hatte, aber sie hat auch eine Zeit im dortigen Dezernat für Gewaltverbrechen gearbeitet”, fuhr Hagen fort und blickte dabei auf einen Zettel, auf dem Harry einen Lebenslauf vermutete. “Juraexamen an der Uni Bergen, 1999, Polizeihochschule und jetzt also Kommissarin bei uns. Sie hat vorläufig keine Kinder, ist aber verheiratet.”
    Eine der beiden schmalen Augenbrauen von Katrine Bratt hob sich kaum merkbar. Hagen musste das gesehen oder sonst irgendwie bemerkt haben, dass der letzte Teil der Information überflüssig gewesen war, denn er fügte rasch hinzu:
    ” … sollte sich jemand dafür interessieren.”
    Das drückende Schweigen, das darauf folgte, sagte Hagen vermutlich, dass er mit seiner letzten Bemerkung alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Er räusperte sich zweimal kräftig und verkündete dann, dass sich all jene, die sich noch nicht für die Weihnachtsfeier angemeldet hätten, das noch bis Mittwoch tun könnten.
    Stühle wurden gerückt, und Harry war bereits auf dem Flur, als er hinter sich eine Stimme hörte:
    “Ich gehör dann wohl dir.”
    Harry drehte sich um und blickte in Katrine Bratts Gesicht. Unwillkürlich fragte er sich, wie hübsch sie wohl wäre, wenn sie es darauf anlegen würde.
    “Oder du mir”, sagte sie und zeigte eine Reihe weißer Zähne, doch ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht. “Je nachdem.” Ihr moderater Bergener Dialekt ließ Harry vermuten, dass sie aus Fana, Kalfaret oder einer anderen bürgerlichen Gegend stammte.
    Er ging weiter, und sie holte ihn mit ein paar schnellen Schritten ein: “Scheint so, als hätte der Kriminaloberkommissar dich nicht informiert. “
    Sie sprach Hagens Amtstitel übertrieben deutlich aus.
    “Aber du sollst mich in den nächsten Tagen hier ein bisschen einweisen. Bis ich alleine laufen kann. Was meinst du, kriegst du das hin?”
    Harry musste lächeln. Sein erster Eindruck von ihr war positiv, aber man musste mit allem rechnen. Harry war immer bereit, seinen Mitmenschen eine Chance einzuräumen, auf der Schwarzen Liste zu landen.
    “Ich weiß nicht”, meinte er und blieb vor der Kaffeemaschine stehen. “Lass uns mal hiermit anfangen.”
    “Ich trinke keinen Kaffee.”
    “Egal. Die ist selbsterklärend. Wie auch das meiste andere hier.
    Was hältst du von dieser Vermisstensache? “
    Er drückte auf den Knopf für “Americano”, eine Brühe, die etwa so amerikanisch war wie der Kaffee auf den norwegischen Fähren.
    “Was soll ich davon halten?”
    “Glaubst du, sie lebt noch?” Harry versuchte sich möglichst neutral auszudrücken, damit sie nicht spürte, dass er sie auf die Probe stellte.
    “Hältst du mich für blöd?”, fragte sie und sah mit unverhohlenem Abscheu zu, wie die Maschine hustend ein schwarzes Gebräu in den weißen Plastikbecher spuckte. “Hast du nicht zugehört? Der Kriminaloberkommissar hat doch gesagt, dass ich vier Jahre bei der Sitte gearbeitet habe.”
    “Hm”, machte Harry. “Tot?”
    “Wie ein eingelegter Hering”, sagte Katrine Bratt.
    Harry nahm den weißen Becher. Plötzlich hatte er das Gefühl, er könnte gerade eine Kollegin bekommen haben, die er schätzen konnte.
    Als Harry am Nachmittag nach Hause ging, war der Schnee auf dem Bürgersteig und der Straße geschmolzen. Die dünnen, leichten Flocken, die durch die Luft wirbelten, wurden vom nassen Asphalt aufgesaugt, kaum dass sie sich darauf niedergelassen hatten. Er ging in seinen angestammten Plattenladen auf der Akersgata und kaufte die neueste CD von Neil Young, obwohl er den Verdacht hatte, dass die gar nicht so gut war.
    Als er die Tür seiner Wohnung aufschloss, spürte er, dass irgendetwas verändert war. Es klang anders. Oder es roch anders. An der Schwelle zur Küche blieb er wie angewurzelt stehen.
    Auf einer Seite fehlte die gesamte Wand. Das heißt, dort, wo noch am Morgen eine helle, geblümte Tapete auf einer Wand aus Rigipsplatten gewesen war, starrte er jetzt auf rostrote Ziegel, grauen Mörtel
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