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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann
Autoren: Jo Nesbø
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ihn und drückte sich von hinten an ihn. “Aber musst du denn wirklich schon heute Abend abreisen?”
    “Meine Gastvorlesung ist morgen früh um acht”, erklärte der Vater. “Und vom Flughafen bis zur Uni brauche ich eine Stunde, ich würde das nicht schaffen, nicht mal mit dem ersten Flieger morgen früh.”
    Jonas sah an den Nackenmuskeln seines Vaters, wie er sich entspannte. Seine Mutter hatte wieder einmal die richtigen Worte gefunden.
    “Warum guckt der Schneemann zu uns in Haus?”, wiederholte Jonas seine Frage.
    “Geh und wasch dir die Hände! “, befahl die Mutter.
    Sie aßen schweigend. Nur einmal fragte Mutter, wie es in der Schule gewesen war, und Jonas gab darauf wie immer nur eine kurze, vage Antwort. Er wusste, dass zu detaillierte Antworten zu unangenehmen Nachfragen seines Vaters führen konnten, der dann immer wissen wollte, was sie auf dieser traurigen Schule denn eigentlich lernten - oder nicht lernten. Wenn er ihn nicht gar zu verhören begann: mit wem er gespielt hatte, was dessen Eltern taten und woher sie kamen. Fragen, auf die Jonas zum Ärger seines Vaters nie die richtigen Antworten wusste.
    Nachdem Jonas ins Bett gegangen war, hörte er, wie sich sein Vater unten von seiner Mutter verabschiedete.
    Danach fiel die Tür ins Schloss, und kurz darauf hörte er draußen das Auto starten und fortfahren. Jetzt waren sie wieder allein. Mutter schaltete den Fernseher ein. Ihm fiel ein, was sie ihn gefragt hatte: warum er so gut wie nie mehr einen Spielkameraden mit nach Hause brachte? Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte, schließlich wollte er sie ja nicht traurig machen. Stattdessen war er jetzt traurig. Er biss sich in die Innenseiten seiner Wangen, spürte den angenehmen Schmerz bis in die Ohren ausstrahlen und starrte auf die Metallstangen des Mobiles, das unter der Zimmerdecke schwebte. Dann stand er auf und trat ans Fenster.
    Der Schnee, der im Garten lag, reflektierte so viel Licht, dass Jonas den Schneemann erkennen konnte. Er sah einsam aus. Jemand hätte ihm einen Schal und eine Mütze geben sollen. Und vielleicht einen Besen, an dem er sich festhalten konnte. Im gleichen Moment kam der Mond hinter den Wolken zum Vorschein, so dass die schwarzen Zähne aufblitzten. Und die steinernen Augen. Unwillkürlich hielt Jonas die Luft an und trat zwei Schritte zurück. Diese funkelnden schwarzen Augen starrten nicht einfach nur die Hauswand an, sie sahen hoch zu ihm. Jonas zog die Gardine zu und kroch wieder ins Bett.

KAPITEL 3
    1. Tag. Cochenille
    Harry saß auf einem Barhocker im Palace Grill und las die Schilder mit den gutgemeinten Aufforderungen, nicht um Kredit zu bitten oder auf den Pianisten zu schießen. “Be Good Or Be Gone”. Es war noch früh am Abend, und die einzigen anderen Gäste waren zwei Mädchen, die an einem Tisch saßen und sich mit ihren Handys unterhielten, sowie zwei Jungs, die zwar mit reichlich Finesse und der richtigen Körperhaltung Dart spielten, aber trotzdem nicht trafen. Dolly Parton, die bei den Wächtern des guten Country-Geschmacks anscheinend wieder auf Wohlwollen stieß, säuselte mit nasalem Südstaatenakzent aus den Lautsprechern. Harry sah noch einmal auf die Uhr und wettete mit sich selbst, dass Rakel Fauke um sieben Minuten nach acht in der Tür stehen würde. Er spürte die knisternde Spannung, die er immer bei ihren Wiedersehen empfunden hatte, und redete sich selbst ein, das sei nur Konditionierung, so wie das Sabbern der Pawlow’schen Hunde, wenn sie die Glocke hörten. Heute Abend wollten sie essen und sich über das Leben unterhalten, das sie führten, genauer gesagt: das sie führte. Und über Oleg, den Sohn, den sie mit ihrem russischen Exmann hatte. Rakel hatte früher einmal in der norwegischen Botschaft in Moskau gearbeitet. Über den Jungen mit dem zurückhaltenden, verschlossenen Wesen, zu dem Harry trotzdem einen guten Draht gefunden hatte und mit dem ihn inzwischen so viel verband. Gefühle, wie sie in dieser Tiefe zwischen Harry und seinem Vater nie bestanden hatten. Als Rakel schließlich nicht mehr gekonnt und die Beziehung beendet hatte, war er nicht sicher gewesen, welcher Verlust ihn stärker traf. Doch jetzt wusste er es. Denn jetzt war es sieben Minuten nach acht, und sie stand in ihrer typischen Haltung in der Tür. Er konnte den nach innen geschwungenen Rücken förmlich unter seinen Fingern und die Glut der Haut unter den hohen Wangenknochen auf seinem Gesicht brennen spüren. Er hatte gehofft, sie sähe
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