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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann
Autoren: Jo Nesbø
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nassen Haaren und roten Wangen, wie der Fall ihres Vaters zu einer richtigen Besessenheit geworden war. Sie bat Harry um Verzeihung dafür, ihn in die Sache hineingezogen zu haben. Aber in ihren Augen konnte er dabei keinerlei Bedauern erkennen.
    “Mein Psychiater ist der Meinung, ich sei nur ein bisschen extremer als die meisten anderen Menschen”, erzählte sie lachend und zuckte mit den Schultern. “Aber das ist jetzt erledigt. Es hat mich seit meiner Kindheit verfolgt, doch jetzt ist der Name meines Vaters endlich reingewaschen, und ich kann wieder vorwärtsgehen im Leben.”
    “Und dann willst du ausgerechnet in der Sitte Akten stapeln?” “Lass mich erst einmal da anfangen, dann sehen wir weiter.
    Auch Ministerpräsidenten schaffen mitunter ein Comeback.”
    Dann huschte ihr Blick aus dem Fenster über den Fjord. Vielleicht in Richtung Finnoy. Als Harry gegangen war, wusste er, dass sie innerlich noch immer verletzt war und es wohl auch immer bleiben würde.
    Er blickte auf seine Hand. Aune hatte recht: Jedes Baby war bei der Geburt ein perfektes Wunder, und das Leben im Grunde nur ein fortlaufender Zerstörungsprozess.
    Eine Schwester stand in der Türöffnung und räusperte sich: “Es wird Zeit für ein paar Spritzen, Herr Aune.” “0 nein, ersparen Sie mir das, Schwester.” “Hier wird niemandem etwas erspart.”
    Stille Aune seufzte. “Schwester, was ist schlimmer? Jemandem, der leben will, das Leben zu nehmen, oder jemandem, der sterben will, den Tod zu verwehren?”
    Beate, die Schwester und Stalle lachten, und niemand bemerkte, wie Harry auf seinem Stuhl zusammenzuckte.
    Harry lief den steilen Hang vom Krankenhaus zum Sognsvann hoch. Es waren nur wenige Menschen dort, bloß die treue Schar der Sonntagsspaziergänger, die ihre Runde um den See machten. Rakel wartete an der Schranke auf ihn.
    Sie umarmten sich und begannen schweigend ihre Runde. Die Luft war eiskalt, und die Sonne schien matt von einem blassblauen Himmel. Trockenes Laub knisterte und löste sich unter ihren Sohlen auf.
    ” Ich bin schlafgewandelt “, brach Harry schließlich das Schweigen.
    ” Tatsächlich?”
    “Ja, und vermutlich mache ich das schon eine ganze Weile.” “Es ist gar nicht so leicht, immer und überall wirklich voll da zu sein “, meinte sie.
    “Nein, nein.” Er schüttelte den Kopf. “Ich meine das wörtlich. Ich glaube, ich war auf und bin nachts durch die Wohnung gelaufen. Ich war in der Küche und habe nasse Fußspuren auf dem Boden gesehen. Und dann merkte ich, dass ich vollkommen nackt war, abgesehen von meinen Gummistiefeln. Es war mitten in der Nacht, und ich hatte einen Hammer in der Hand.”
    Rakel sah lächelnd zu Boden. Sie veränderte ihre Schrittlänge, so dass sie wieder im selben Takt liefen. “Ich bin auch eine Weile schlafgewandelt. Zu Beginn meiner Schwangerschaft.”
    “Aune hat mir gesagt, dass Erwachsene in Stressphasen manchmal dazu neigen.”
    Am Ufer des Sees blieben sie stehen. Beobachteten ein Schwanenpaar, das scheinbar ohne jede Bewegung lautlos über die graue Fläche glitt.
    “Ich wusste von Anfang an, wer Olegs Vater war”, erklärte sie. “Nur noch nicht, als er von seiner Freundin in Oslo die Nachricht bekam, sie sei schwanger.”
    Harry füllte seine Lungen mit der eiskalten Luft. Spürte, wie es stach und nach Winter schmeckte. Er schloss die Augen, wandte das Gesicht zur Sonne und hörte ihr zu.
    “Als ich es herausfand, hatte er gerade seine Entscheidung getroffen und sich von Moskau nach Oslo zurückversetzen lassen. Ich hatte zwei Alternativen. Dem Kind in Moskau einen Vater zu geben, der ihn lieben und für ihn sorgen würde wie für sein eigenes Kind, solange er es für sein eigenes Kind hielt. Oder Oleg hätte eben gar keinen Vater gehabt. Es war absurd. Du weißt, was ich von Lügen halte. Hätte mir jemand gesagt, dass ich - ausgerechnet ich - mich eines Tages entscheiden würde, für den Rest meines Lebens mit einer Lüge zu leben, hätte ich das sofort von mir gewiesen. Wenn man jung ist, kommt einem alles so leicht vor. Man weiß so wenig über die unmöglichen Entscheidungen, die man irgendwann einmal treffen muss. Und hätte ich nur für mich selbst die Verantwortung übernehmen müssen, wäre die Entscheidung ja auch einfach gewesen. Aber es gab so viele Rücksichten zu nehmen. Sollte ich Fjodor vor den Kopf stoßen und seine Familie kränken und noch dazu das Leben dieses Mannes in Oslo und seiner Familie kaputtmachen? Außerdem musste ich auch
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