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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann
Autoren: Jo Nesbø
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genug Sauerstoff ins Gehirn kriegen. Trotzdem gaben seine Knie langsam unter ihm nach. Der weißglühende Ring über ihm wurde langsam rot und dann immer dunkler, bis er schließlich schwarz war. Hinter sich hörte er das Geräusch von Glas, das unter dem Gewicht mehrerer Stiefel zermahlen wurde.
    “Wir haben sie”, rief eine Stimme hinter ihm. 
    Harry sackte auf die Knie in das blutige Wasser, in dem unbenutzte Plastikstrips neben Schneeklumpen dümpelten. Sein Hirn schaltete sich immer wieder aus, als wäre die Stromzufuhr da drinnen unterbrochen.
    Hinter ihm sagte jemand etwas, aber er bekam nur Bruchstücke mit. Krampfhaft atmete er ein und stöhnte ein “Was?”.
    “Sie lebt”, wiederholte die Stimme.
    Die Geräusche stabilisierten sich, und das Bild vor seinen Augen kam auch langsam zum Stillstand. Er drehte sich um. Die beiden schwarzgekleideten Männer hatten Rakel aufs Bett gesetzt und durchtrennten die Fesseln. Harrys Mageninhalt kam ohne Vorwarnung. Zwei kräftige Stöße, dann war alles aus ihm heraus. Er starrte auf das Erbrochene, das im Wasser trieb und spürte ein hysterisches Verlangen, laut zu lachen. Denn da war etwas, das aussah, als hätte er es mit ausgekotzt. Er hob die rechte Hand und starrte auf den blutigen Stumpf seines Mittelfingers, der alles bestätigte. Es war tatsächlich sein Finger, der da im Wasser schwamm.
    “Oleg … ” Das war Rakels Stimme.
    Harry nahm einen der Plastikstrips, legte ihn um den Mittelfingerstumpf und zog so fest zu, wie er konnte. Das Gleiche machte er mit dem rechten Zeigefinger, der bis zum Knochen durchtrennt war, aber noch immer an der Hand saß.
    Dann trat er ans Bett, schob die Beamten beiseite, deckte Rakel zu und setzte sich neben sie. Die Augen, die ihn anstarrten, waren vom Schock geweitet und schwarz, und die blutenden Wunden an den beiden Seiten ihres Halses belegten, dass die Schneideschlinge auch in Berührung mit ihrer Haut gekommen war. Mit seiner unverletzten Hand nahm er die ihre.
    “Oleg”, wiederholte sie.
    “Er ist in Ordnung”, beschwichtigte Harry und erwiderte ihren Händedruck. “Er ist bei den Nachbarn. Es ist vorbei.” Er sah, wie sie versuchte, ihren Blick zu fokussieren. “Versprichst du mir das?”, flüsterte sie kaum hörbar. “Ich verspreche es.”
    “Gott sei Dank.”
    Sie schluchzte einmal auf, verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen.
    Harry blickte auf seine verstümmelte Hand. Entweder hatten die Kabelbinder seine Blutungen gestoppt oder er war leer.
    “Wo ist Mathias?”, fragte er leise.
    Ihr Kopf fuhr hoch, sie starrte ihn an. “Du hast doch gerade versprochen, dass … “
    “Wo ist er hin, Rakel?” “Ich weiß es nicht.” “Hat er nichts gesagt?”
    Sie umklammerte seine Hand. “Geh jetzt nicht, Harry. Können sich da nicht andere … “
    “Was hat er gesagt?”
    An dem Zucken, das durch ihren Körper ging, merkte er, wie laut er geworden war.
    “Er hat gesagt, es sei vollbracht, und jetzt wolle er den Schlusspunkt setzen.” Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. “Und dass dieser Schluss eine Hymne an das Leben sein würde.”
    “Eine Hymne an das Leben. Hat er das wirklich so gesagt?” Sie nickte. Harry zog seine Hand weg, stand auf und trat ans Fenster. Er sah in die Nacht hinaus. Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien. Er blickte zu dem hellerleuchteten Monument empor, das man von fast überall in Oslo sehen konnte. Die Sprungschanze. Wie ein weißes Komma stand sie vor dem schwarzen Höhenzug. Wie ein Punkt.
    Harry ging zurück zum Bett, beugte sich zu Rakel herab und küsste sie auf die Stirn.
    “Wohin gehst du?”, flüsterte sie.
    Harry hob seine blutige Hand an und lächelte. “Zum Arzt.” Dann verließ er das Zimmer und wäre auf der Treppe beinahe
    gestolpert. Trat in das kalte, weiße Dunkel vor dem Haus, doch die Übelkeit und der Schwindel wollten ihn nicht loslassen.
    Hagen stand neben dem Landrover und sprach in sein Handy. Er unterbrach das Gespräch jedoch und nickte, als Harry fragte, ob sie ihn fahren könnten.
    Als Harry sich auf den Rücksitz setzte, musste er daran denken, dass Rakel Gott gedankt hatte. Sie konnte ja nicht wissen, dass ein ganz anderer die Dankbarkeit verdiente. Dass der Kauf besiegelt war und die Ratenzahlung begonnen hatte. 
    “Runter in die Stadt?”, erkundigte sich der Fahrer.
    Harry schüttelte den Kopf und zeigte nach oben. Sein Zeigefinger wirkte seltsam einsam zwischen Daumen und Ringfinger.

KAPITEL 36
    21. Tag.
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