Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
Der Turm
    Der Weg von Rakels Haus bis hinauf zum Holmenkollen dauerte drei Minuten. Sie fuhren durch den Schanzentunnel und parkten auf dem Aussichtsplatz zwischen den Souvenirbuden. Der Aufsprunghang sah aus wie ein weißer, gefrorener Wasserfall, der zwischen den Tribünen nach unten stürzte und etwa hundert Meter unter ihnen flach auslief.
    “Woher willst du wissen, dass er hier ist?”, fragte Hagen. “Weil er es mir selbst gesagt hat”, antwortete Harry. “An einer Eisbahn hat er mir gesagt, dass er von diesem Turm springen will, wenn er eines Tages sein Lebenswerk vollendet hat und so krank ist, dass sowieso nur noch der Tod auf ihn wartet. Wie eine Hymne an das Leben.” Harry zeigte zum hellerleuchteten Turm und der Anlaufspur hinauf, die sich in den schwarzen Himmel reckten. “Und er weiß auch ganz genau, dass ich das nicht vergessen habe.”
    “Verrückt”, flüsterte Gunnar Hagen und blickte mit zusammengekniffenen Augen zu dem dunklen Glaskäfig hinauf, der auf der Spitze des Turmes thronte.
    “Kann ich mir Ihre Handschellen leihen?”, bat Harry den Fahrer.
    “Du hast doch schon welche”, wandte Hagen ein und blickte auf Harrys rechtes Handgelenk, an dem er eine Manschette seiner eigenen Handschellen befestigt hatte, während die andere geöffnet nach unten hing.
    “Ich hätte aber gerne zwei”, beharrte Harry und nahm die Handschellen des Fahrers entgegen. “Kannst du mir mal kurz helfen? Mir fehlen da ein paar Finger … “
    Hagen schüttelte verständnislos den Kopf, während er eine Manschette der neuen Handschellen an Harrys anderem Handgelenk befestigte.
    “Es gefällt mir gar nicht, dass du da allein hochgehen willst. Das macht mir Angst.”
    “Da oben ist nicht viel Platz. Außerdem kann ich allein besser mit ihm reden.” Harry zeigte ihm Katrines Revolver. “Und den hier habe ich ja auch noch.”
    “Genau davor habe ich Angst, Harry.”
    Hauptkommissar Hole warf seinem Chef einen kurzen Blick zu, ehe er sich abwandte und mit seiner unverletzten linken Hand die Tür öffnete.
    Der Fahrer begleitete ihn bis zum Eingang des Skimuseums, das er durchqueren musste, um zum Fahrstuhl zur Turmspitze zu kommen. Sie hatten eine Brechstange mitgenommen, um das Glas der Eingangstür zu zertrümmern, doch als sie sich näherten, sahen sie im Licht der Taschenlampe die glitzernden Scherben am Boden vor der Kasse. Irgendwo im Inneren des Museums heulte ein Alarm.
    “Okay, dann wissen wir also schon mal, dass unser Mann da ist”, stellte Harry fest und überprüfte, ob der Revolver auch richtig unter dem Hosenbund am Rücken steckte. ” Postieren Sie zwei Leute am rückwärtigen Ausgang, sobald die nächste Streife da ist.”
    Harry übernahm die Taschenlampe, trat in die dunklen Museumsräume und hastete an den Bildern und Plakaten vorbei, die norwegische Skihelden zeigten, norwegische Flaggen, norwegisches Skiwachs, norwegische Könige und Kronprinzessinnen, alle versehen mit kurzen Texten, die keinen Zweifel daran ließen, was für eine großartige Nation Norwegen war. Auf einmal wusste Harry, warum er dieses Museum nicht ausstehen konnte.
    Der Fahrstuhl befand sich am hinteren Ende des Raumes, ein enger Aufzug mit innenliegender Tür. Harry starrte die metallene Front an und spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Neben dem Fahrstuhl führte eine Stahltreppe nach oben.
    Acht Treppenabsätze später bereute er seine Entscheidung bereits. Schwindel und Übelkeit meldeten sich wieder, und er musste sich noch einmal übergeben. Das Geräusch seiner Schritte auf dem Metall hallte durchs Treppenhaus, und die baumelnden Handschellen spielten Metallophon auf dem Geländer. Eigentlich sollte Adrenalin durch seinen Körper fluten und ihn in Alarmbereitschaft versetzen. Aber wahrscheinlich war er einfach zu müde. Oder er wusste, dass alles längst gelaufen war. Der Handel war abgeschlossen, die Konsequenzen klar.
    Harry lief weiter. Setzte die Füße auf die Stufen und versuchte gar nicht erst, leise zu sein. Er wusste, dass der andere ihn längst gehört hatte.
    Die Treppe führte direkt in den dunklen Glaskäfig. Harry schaltete die Taschenlampe aus und spürte sofort den kalten Luftzug, als er sich dem letzten Absatz näherte. Ein blasser Mond schien in den etwa vier mal vier Meter großen Raum. An der Innenseite der Glaswände war ein Metallgeländer befestigt, an das sich die Touristen vermutlich mit ängstlichem Schaudern klammerten, wenn sie die Aussicht über Oslo und Umgebung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher