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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg
Autoren: Gerbrand Bakker
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1
    An einem frühen Morgen sah sie die Dachse. Sie liefen an dem Steinkreis herum, den sie vor ein paar Tagen entdeckt hatte und gern einmal bei Tagesanbruch sehen wollte. Dachse hatte sie sich immer als friedliche, ein wenig träge und scheue Wesen vorgestellt, aber hier wurde gekämpft und gefaucht. Als die Tiere sie bemerkten, verschwanden sie ohne Hast zwischen den blühenden Stechginstersträuchern. Es roch nach Kokos. Sie ging zurück. Auf dem Weg, den man nur fand, wenn man weit vorausblickte; den sie erahnte, wenn sie auf rostige kissing gates achtete, auf morsche stiles und auf die wenigen Pfähle mit einem Zeichen, das wohl ein gehendes Männchen darstellen sollte. Das Gras war nicht platt getreten.
    November. Windstill, feucht. Sie freute sich über die Dachse, es tat gut, die Tiere beim Steinkreis zu wissen, auch wenn sie nicht da war. An dem grasbewachsenen Weg standen uralte Bäume, die Rinde mit hellgrauem, rauhem Moos bewachsen, die Äste brüchig. Brüchig und doch zäh und immer noch belaubt, die Bäume waren auffallend grün für die Jahreszeit. Der Himmel blieb oft grau, das Meer war nicht weit entfernt; wenn sie tagsüber aus einem der Fenster im Obergeschoß schaute, konnte sie es manchmal sehen. An anderen Tagen zeigte es sich nicht, dann sah sie nur Bäume, hauptsächlich Eichen, und hin und wieder hellbraune Kühe, die sie neugierig und zugleich unbeteiligt anblickten.
    Nachts hörte sie Wasser, ein kleiner Bach floß am Haus vorbei. Ein- oder zweimal war sie aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil der Wind gedreht oder zugenommen und das Wasserrauschen überdeckt hatte. Da war sie etwa drei Wochen hier gewesen. Lange genug, um aufzuwachen, wenn sie ein Geräusch vermißte.
2
    Von den zehn dicken weißen Gänsen auf dem Stück Land neben der Zufahrt waren nach knapp einem Monat noch sieben übrig. Die anderen drei verschwanden bis auf wenige Reste: verstreute Federn und ein einziges orangefarbenes Bein. Die verbliebenen Tiere grasten ungerührt weiter. Als Räuber konnte sie sich nur einen Fuchs denken, es hätte sie aber auch nicht gewundert, wenn hier Wölfe oder Grizzlybären gelebt hätten. Sie fühlte sich schuldig, weil die Gänse gefressen wurden, glaubte für ihr Überleben verantwortlich zu sein.
    »Zufahrt« war ein großes Wort für den gewundenen Weg von einem oder anderthalb Kilometern Länge, der nur hier und da behelfsmäßig mit einer Ladung Ziegelsplitt oder Scherben von Dachpfannen befestigt war. Das Land beiderseits des Zufahrtsweges – Weiden, Sumpf, Wäldchen – gehörte zum Haus, sie hatte immer noch keine genaue Vorstellung von dem Gelände, vor allem, weil es so hügelig war. Die Gänseweide war ordentlich mit Stacheldraht umzäunt, immerhin. Er rettete die Tiere nicht. Früher hatte jemand drei kleine Teiche für sie gegraben, die von einer unsichtbaren Quelle gespeist wurden; der zweite lag etwas tiefer als der erste, der dritte am tiefsten. Früher hatte bei den Teichen auch ein Holzhäuschen gestanden, inzwischen nicht viel mehr als ein zur Seite gekipptes Dach mit einem durchgebogenen Bänkchen davor.
    Die Zufahrt lag an der Rückseite des Hauses, in der anderen Richtung (von hier aus nicht sichtbar) der Steinkreis und noch ein gutes Stück weiter entfernt das Meer. Sehr sanft fiel das Land nach allen Seiten ab, sämtliche Fenster boten Aussicht auf tiefer Gelegenes. An der Rückseite waren es nur zwei kleine, eins im großen Schlafzimmer und eins im Bad. Der Bachlauf führte an der Küchenseite vorbei, er folgte dem abfallenden Gelände. Im Wohnzimmer, in dem fast den ganzen Tag Licht brannte, gab es einen großen Holzofen. Die unverkleidete Treppe nahm einen Teil der Seitenwand genau gegenüber der Haustür ein, deren obere Hälfte fast ganz aus einer dicken Glasscheibe bestand. Oben zwei Schlafzimmer und ein riesiges Bad, darin eine alte Wanne auf Löwenfüßen. Im alten Schweinestall – in den bestimmt nicht mehr als drei ausgewachsene Schweine paßten – ein größerer Holzvorrat und allerlei Gerümpel. Der Stall hatte einen geräumigen Keller, über dessen Zweck sie sich nicht im klaren war. Sauber und ordentlich, die Wände glatt mit einer Art Lehm verputzt; ein längliches, niedriges Fenster neben der Betontreppe ließ etwas Licht herein. Die Kellerluke konnte mit einer Klappe verschlossen werden, die anscheinend schon lange nicht mehr heruntergelassen worden war. Erst nach und nach erweiterte sie ihren Raum, der Steinkreis war kaum mehr als zwei Kilometer
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