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Schneemann

Schneemann

Titel: Schneemann
Autoren: Jo Nesbø
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erklärte Aune und drehte Harrys Hand um. “Das ist ja eine Teufelsklaue. Was ist passiert?”
    Harry ließ die beiden seine rechte Hand bestaunen. “Der Mittelfinger ist abgetrennt worden und war auch nicht mehr zu retten, aber im Zeigefinger haben sie die Sehnen wieder zusammengenäht. Die Nervenenden wachsen jetzt einen Zentimeter pro Monat und versuchen sich wiederzufinden. Die Ärzte meinen aber, ich muss damit rechnen, dass die Innenseite für immer taub bleiben wird.”
    “Ein hoher Preis.”
    “Ach was”, sagte Harry. “Pipifax.” Aune nickte.
    “Weiß man inzwischen, wann die Sache vor Gericht kommt?”, erkundigte sich Beate, die aufgestanden war, um das Kind in den Softbag zu legen.
    “Nein”, antwortete Harry und verfolgte die effektiven Bewegungen der Kriminaltechnikerin.
    “Die Verteidigung wird versuchen, Lund-Helgesen für verrückt erklären zu lassen”, meinte Aune, der die volkstümliche Ausdrucksweise vorzog. Seiner Meinung nach war dieses Wort nicht nur äußerst zutreffend, sondern überdies höchst poetisch. “Und um damit zu scheitern, bräuchte es wirklich einen sehr, sehr schlechten Psychologen.”
    “Ja, ja, aber er wird so oder so lebenslänglich bekommen”, vermutete Beate, legte den Kopf auf die Seite und strich die Babydecke glatt.
    “Nur schade, dass lebenslänglich nicht gleich lebenslänglich ist”, brummte Aune und streckte seine Hand nach dem Wasserglas aus, das auf dem Nachttischchen stand. “Je älter ich werde, desto mehr neige ich zu der Ansicht, dass Bösartigkeit nun mal Bösartigkeit ist, ob einer nun geisteskrank ist oder nicht. Wir sind alle mehr oder weniger für böse Handlungen disponiert, aber diese Veranlagung befreit uns nicht von Schuld. Im Grunde sind wir doch alle krank und haben eine gestörte Persönlichkeit. Wobei wir nur durch unsere Handlungen definieren, wie krank wir sind. Man redet immer davon, dass vor Gericht alle gleich sind, aber das ist doch sinnlos, solange in Wirklichkeit niemand gleich ist. Während der Pest wurden Matrosen sofort über Bord geworfen, wenn sie auch nur husteten. Verständlich. Denn die Gerechtigkeit ist ein stumpfes Messer, sowohl in der philosophischen Diskussion als auch vor Gericht. Das Einzige, was wir haben, meine Lieben, sind doch ein paar glückliche oder eben weniger glückliche Krankheitsbilder. “
    “Tja.” Nachdenklich starrte Harry auf den bandagierten Stumpf seines Mittelfingers. “In diesem Fall ist es lebenslänglich.” “Bitte?”
    “Das weniger glückliche Krankheitsbild, meine ich.”
    Schweigen legte sich über den Raum.
    ” Hab ich euch schon erzählt, dass man mir eine Fingerprothese angeboten hat?”, fragte Harry und wedelte mit seiner rechten Hand herum. “Aber im Grunde gefällt es mir so. Vier Finger. Wie im Comic.”
    “Was hast du mit dem Finger gemacht, der da mal war?”
    “Ich wollte ihn erst dem Anatomischen Institut vermachen, aber die haben dankend abgelehnt. Also werde ich ihn wohl ausstopfen lassen und bei mir auf den Schreibtisch legen. Wie Hagen seinen japanischen kleinen Finger. Ich dachte mir, ein steifer Mittelfinger wäre doch ein passender Willkommensgruß in Harry Holes Büro.”
    Die zwei anderen lachten.
    “Wie geht’s denn Oleg und Rakel?”, erkundigte sich Beate. “Überraschend gut”, erwiderte Harry. “Die sind echt hart im
    Nehmen.”
    “Und Katrine Bratt?”
    “Besser. Ich habe sie letzte Woche besucht. Sie fängt im Februar wieder an. Bei der Sitte in Bergen.”
    “Wirklich? Wollte sie in ihrem Eifer nicht sogar Leute erschießen?”
    “Nee, Fehlanzeige, wie sich herausstellte, hatte sie immer nur einen ungeladenen Revolver dabei. Deshalb hat sie es auch gewagt, den Abzug so fest zu drücken, dass sich der Hahn gehoben hat. Ich hätte das schon früher kapieren müssen.”
    “Wieso?”
    “Wenn man von einer Dienststelle auf eine andere wechselt, gibt man seine Dienstwaffe ab und bekommt eine neue und zwei Schachteln Patronen. Und in ihrer Schreibtischschublade befanden sich eben zwei ungeöffnete Schachteln.”
    Sie schwiegen einen Augenblick.
    “Schön, dass sie gesund ist”, meinte Beate und streichelte dem Baby über die Haare.
    “Ja”, stimmte Harry abwesend zu. Es hatte wirklich so ausgesehen, als ginge es ihr besser. Als er Katrine in der Wohnung ihrer Mutter in Bergen besucht hatte, war sie gerade nach einer langen Joggingtour im Sandviksfjellet aus der Dusche gekommen. Während ihre Mutter Tee servierte, erzählte sie mit noch
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