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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub)
Autoren: Marten t Hart
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Herbst war es, jetzt weiß ich es wieder, es war ein schöner Abend, und ich fuhr bei strahlendem Wetter durch den Westgaag mit dem Rad nach Hause. Siem holte mich ein und fuhr neben mir her. Wir sagten kein Wort. Aber als ich zur Seite sah, bemerkte ich, dass zwischen unseren Hinterrädern ein Vorderrad auftauchte, und dieses Vorderrad schob sich immer weiter vor. Siem wich ein wenig zur Seite aus, denn das war ziemlich beklemmend, dieses unheimliche Vorderrad dort zwischen unseren Hinterrädern. Es hätte ganz leicht unsere Räder berühren können, und deshalb wich Siem noch ein wenig mehr zur Seite aus, und auch ich fuhr ein bisschen weiter nach rechts, ganz knapp an der Böschung vorbei. Ach, ich sehe das hohe Gras immer noch vor mir, es musste unbedingt mal gemäht werden, tja, das Ende vom Lied war, dass Siem in die Pedale trat und vorfuhr, weil uns jemand entgegenkam, und da radelte ich plötzlich neben einem anderen Jungen. Siem schaute sich um, und ich sehe immer noch sein verdattertes Gesicht vor mir. Dabei konnte ich doch gar nichts dafür. Es war das Vorderrad deines Vaters, das sich zwischen unsere Hinterräder geschoben, und das Fahrrad deines Vaters, das Siems Rad einfach beiseitegedrängt hat, dein Vater, der dann auch noch in aller Seelenruhe zu mir sagte, ich sei seine Freundin.«
    »Und das hast du dir gefallen lassen? Du hättest doch sagen können: ›Spinnst du, ich geh schon mit Siem.‹«
    »Das habe ich, aber er erwiderte nur: ›Siem kannst du abhaken, der ist ein Halbvetter von dir, mit dem darfst du gar nicht ... Nein, nein, du hast meine Hosenträger repariert, du bist meine Freundin.‹«
    »Stimmt das? Hast du ...
    »Dein Vater kam nach dem Katechismusunterricht mit einem meiner Brüder zu uns nach Hause. Er tat mir ein wenig leid, weil er so heruntergekommen aussah. So mager. Bei ihm zu Hause kümmerte sich keiner um ihn. Und seine Hosenträger ... ja, die waren ziemlich kaputt. Er konnte sie nicht mehr gut verstellen, und richtig festmachen konnte er sie auch nicht, weil die Knöpfe ... Alles wurde mit Schnüren und Sicherheitsnadeln zusammengehalten. Ich hatte gerade mein Nähzeug auf dem Schoß und sagte zu ihm: ›Gib deine Hosenträger mal kurz her, dann werde ich sie, so gut es geht, reparieren.‹ Er setzte sich also hin und drückte mir die Hosenträger in die Hand. Tja, so ist das alles gekommen, wenn ich diese Hosenträger nicht geflickt hätte ...
    »Das ist ja vielleicht ein Ding«, sagte ich. »Wenn ich dich recht verstehe, muss ich zu dem Schluss kommen, dass ich das Nebenprodukt von ramponierten Hosenträgern bin.«
    »Wenn seine Hosenträger heil gewesen wären, wäre mein ganzes Leben anders verlaufen. Dann hätte ich vielleicht damals schon Siem geheiratet.«
    »Ich begreife nicht, dass Siem sich einfach so durch ein paar ausgefranste Hosenträger hat verdrängen lassen.«
    »Hinzu kam ja noch, dass wir verwandt waren. Bei mir zu Hause sah man darin kein großes Problem, aber Siems Eltern hatten Schwierigkeiten damit. Vielleicht suchten sie aber auch nur einen Vorwand, um mich von ihm fernzuhalten, denn ich glaube, dass sie mich eigentlich nicht gut genug für ihn fanden. Siems Vater war Gemeindesekretär, meiner Gärtner. Ich erinnere mich noch daran, wie wir eines Nachmittags Hand in Hand hinter einem Gewächshaus mit Trauben gesessen haben; da roch es so herrlich. Hast du den Duft dort auch einmal gerochen?«
    »Klar«, erwiderte ich, »sogar auf Madeira, wo es doch so wunderbar riecht, duftete es nicht so gut wie hinter dem Gewächshaus deines Vaters.«
    »Woher dieser Duft kam ... ich weiß es nicht, es waren jedenfalls nicht nur die Trauben. Wenn man dort saß, hätte man fast meinen können, man bekäme schon mal einen Vorgeschmack auf die Düfte des Himmels. Wir haben dort einen ganzen Nachmittag nebeneinandergesessen und kein einziges Wort gesagt; ab und zu kullerte ein Tränchen, und im Nachhinein denkt man: Auf diesen Nachmittag habe ich, ohne es zu wissen, hingelebt, und danach habe ich davon weggelebt, und dieser eine Nachmittag, den vergisst man dann nie ... dass man dort gesessen hat, Hand in Hand, das Herz übervoll, aber auch zu betrübt, um etwas zu sagen.«
    »Na, komm, am Ende ist doch noch alles gut geworden, und du hast ihn geheiratet.«
    »Nachdem er zuerst fast vierzig Jahre mit einer anderen verheiratet war. Sie hat seine sechs Töchter großgezogen.«
    »Hättest du denn sechs Töch…«
    »Meine Mutter sagte immer: ›Söhne, davon
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