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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub)
Autoren: Marten t Hart
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Begräbnis
    A n einem sonnigen, windstillen Septembertag rasten wir zu einer Grube in Groningen. Jahrelang hatte meine Mutter mit meinem Stiefvater in dieser Provinz, genauer gesagt in dem Ort Baflo, gewohnt. Sie war dort, »gleich unter dem Polarkreis«, wie sie sagte, allmählich verschmachtet. Schließlich hatte sie meinen Stiefvater, kurz bevor er anfing, dement zu werden, so weit gekriegt, dass er einem Umzug in die Auen bei Schipluiden zustimmte, wo meine Mutter und er geboren und aufgewachsen waren. Er stellte aber die Bedingung, in Baflo begraben zu werden. Aus diesem Grund machten wir uns also drei Tage nach seinem Tod von Südholland aus auf die Reise nach Nordgroningen.
    Dass wir die Fahrt in einem Reisebus absolvieren würden, war sozusagen bereits bei der Erschaffung der Welt von Gott vorherbestimmt worden. In unserem Clan wird bei Wochenbettbesuchen, Taufen, Konfirmationen, Eheschließungen und Begräbnissen jedes Mal ein Reisebus gechartert. Anders geht es auch kaum, da sowohl mein Vater als auch meine Mutter, schön übersichtlich, mit neun Brüdern und drei Schwestern gesegnet sind. Mit deren besseren Hälften samt Kinderschar füllt man leicht einen Doppeldeckerbus.
    Auch anlässlich der Heirat meiner Mutter und meines Stiefvaters waren wir mit einem Reisebus quer durch die Niederlande gefahren. Am Tag nach dem Begräbnis meines Vaters hatte meine Mutter mir geschworen, sich nie wieder trauen zu lassen. Trotzdem hatte sie mich zwölf Jahre später, am Telefon wohlgemerkt, vollkommen überrumpelt mit der Mitteilung: »Ich werde wieder heiraten.«
    »Wen denn?«, hatte ich sie gefragt.
    »Siem.«
    »Wie kommst du auf Siem?«
    »In der Zeitung sah ich die Todesanzeige für seine Frau. Ich habe ihn angerufen, um ihm mein Beileid auszudrücken. So hat es angefangen.«
    Sie hatte mir nicht erklärt, wie aus einer Beileidsbekundung so wundersam schnell Liebe erblüht war, aber natürlich wurden wir gebeten, zur Hochzeit nach Baflo zu kommen. Nachdem mein Bruder erfahren hatte, dass dank der Beileidshochzeit unsere dezimierte Familie um sechs Stiefschwestern vergrößert werden würde, hatte er eine Woche lang kaum schlafen können.
    »Unglaublich, da kriegt man einfach so sechs Schwestern dazu! Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es darunter nicht einen heißen Feger gibt.«
    Nach unserer Doppeldeckerfahrt saßen wir bereits im beengten Standesamt von Baflo, als die Schwestern hereinmarschiert kamen: sechs grobknochige, korpulente, o-beinige Gemeindeschwestern, eine herzlicher als die andere, weshalb es mich auch nicht störte, dass sie wie Dänische Doggen aussahen. Mein Bruder jedoch war tief enttäuscht, und während der häuslichen Eheschließung weigerte er sich mitzusingen. Als der Pfarrer zu Beginn der Feier einen Kassettenrekorder als Kirchenorgelersatz auf der Fensterbank platzierte und es ihm nicht gelang, daraus andere Geräusche als lautes Rauschen hervorzuzaubern, da sagte mein Bruder: »Hör nur, Lied 33.«
    Schade nur, dass keiner der Anwesenden wusste, welches Lied die Nummer 33 in der nicht genug zu rühmenden Liedersammlung von Johannes de Heer hat. Selbst wenn ich es nicht gewusst hätte, wäre mir dennoch sofort klar gewesen, dass mein Bruder auf den berühmten Sonntagsschulschlager »Es rauscht durch die Wolken ein liebliches Wort« anspielte.
    Dieses Lied sangen wir nicht. Wir sangen Psalmen. Der Pfarrer verband meine Mutter mit einem Mann in der Ehe, der aus derselben Schablone des Schöpfers zu stammen schien wie der Lehrer Splunter. Tja, werter Leser, du weißt nicht, wer Lehrer Splunter ist, aber mein Bruder und ich waren bei ihm in der Klasse. Beide stammen wir noch aus der Zeit vor der Sturmflut, doch mein Bruder ist sieben Jahre jünger als ich, und als er zu Splunter in die Klasse kam, da war der Pädagoge zwar auch sieben Jahre älter, aber sein Vokabular hatte sich kein bisschen verändert. Sein Lieblingssatz lautete: »Ich werde dir die Rippen blau färben.« War er etwas freundlicher gestimmt, rief er: »Ich werde das Wilhelmus auf deinen Rippen klimpern.« Weniger angenehm war es, wenn er ankündigte, statt der niederländischen Nationalhymne Psalm 119 mit allen achtundachtzig Strophen auf deinen Rippen zu intonieren.
    Dass wir ihn nun in der Gestalt von Siem Schlump wiedersahen, war an und für sich schon ein schlechtes Vorzeichen. Trotzdem übertraf das Auftreten des Lehrer-Splunter-Doppelgängers, den wir seit der Besiegelung des Ehebundes mit leisem Spott
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