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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub)
Autoren: Marten t Hart
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Leichenwagen blitzschnell auf die linke Fahrbahn wechselt. Schau nur, da hüpft er schon wieder.«
    Er hatte recht. Bei jedem Spurwechsel machte der Sarg einen kleinen Luftsprung. Infolge dieses »danse macabre« war das Bahrtuch bereits halb heruntergerutscht, sodass wir schon den Lack des Sarges im Heckfenster des Leichenwagens glänzen sahen.
    »Bist du damit einverstanden, dass ich kurz mit dem Fahrer rede?«, fragte mein Bruder.
    »Ich stehe voll hinter dir.«
    »Nein, bleib du mal lieber sitzen, du musst Mutter ablenken, damit sie nichts merkt.«
    Ich nahm wieder neben meiner Mutter Platz. Mein Bruder stieg zum Chauffeur hinunter, flüsterte etwas in dessen rechtes Ohr, erhielt eine geflüsterte Antwort, flüsterte wieder etwas, worauf der Fahrer mit einem mürrischen Nicken reagierte. Anschließend begab mein Bruder sich wieder zu seinem Platz. Der vor uns dahinjagende Leichenwagen wechselte erneut wagemutig auf die linke Fahrbahn. Unser Fahrer hupte, folgte ihm aber nicht. Im Leichenwagen hüpfte der Sarg kurz in die Höhe, und das Bahrkleid glitt vollständig herunter. Weil wir so hoch saßen, konnte ich die bizarre Fahrt des Leichenwagens von der rechten auf die linke Spur und wieder zurück noch lange beobachten, doch schließlich verschwand er aus meinem Blickfeld.
    Wir erreichten die Raststätte am Wolderwijd. Meine Mutter wollte wissen, wo Onkel Siem sei, und mein Bruder erwiderte: »Der ist nach Baflo weitergefahren.«
    Alle Passagiere aus einem solchen Doppeldeckerbus schaffen, sie auf die verschiedenen Tische verteilen, dafür sorgen, dass sich, in Anbetracht der noch bevorstehenden langen Fahrt, Jung und Alt zur Toilette begibt, und die ganze Meute anschließend wieder einsteigen lassen, das ist eine logistische Operation, die Takt, Verstand und äußerste Wachsamkeit erfordert. Regelmäßig kommt dabei einer der zur Toilette schlendernden älteren Brüder, Schwestern, Schwägerinnen, Schwager, Neffen und Nichten abhanden, vor allem jene, die nur angeheiratet sind. Wenn man glaubt, alle seien wieder im Bus, fehlt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein angeheirateter Onkel, eine angeheiratete Tante, ein Neffe oder eine Nichte. Dann muss man erst einmal herausfinden, wen man vermisst, und muss die entsprechende Person anschließend auf dem Rastplatz suchen. Dabei ist scharf darauf zu achten, dass keiner der bereits im Bus befindlichen Senioren aussteigt, um bei der Suche zu helfen, denn den verliert man sonst garantiert auch.
    Nachdem mein Bruder und ich alle wieder in den Bus getrieben hatten, fehlte tatsächlich der älteste Bruder meiner Mutter. Mein Bruder sagte: »Onkel Joost sammeln wir nachher auf der Rückfahrt wieder ein«, doch davon wollte meine Mutter nichts wissen. Also musste ich mich auf die Suche machen, während mein Bruder dafür sorgte, dass niemand den Bus verließ. Ich fand den alten Mann bei einem Zigarettenautomaten. Er schlug auf das Ding ein und schimpfte, weil er Geld hineingeworfen hatte, aber keine Zigaretten herausgekommen waren. Ich schleppte den sich heftig wehrenden Greis zum Reisebus.
    Und weiter ging die Fahrt, unter einem blauen Himmel mit frischen, schneeweißen Waschpulverwolken entlang, über Autobahnen, die tatsächlich immer weniger befahren waren, je mehr wir uns Baflo näherten. Dort angekommen, parkten wir bei der reformierten Kirche. Waren Siems Töchter samt Ehemännern und Kindern schon da? Dies schien nicht der Fall zu sein, aber wir hatten ja noch Zeit. Ebenso unverständlich wie besorgniserregend war jedoch, dass der Leichenwagen offensichtlich noch nicht angekommen war.
    »Haben Sie eine Ahnung, wo der Leichenwagen sein könnte?«, fragte mein Bruder den Busfahrer.
    »Kann überall sein«, erwiderte der Mann äußerst griesgrämig. »Sie wollten ja nicht, dass wir im Konvoi fahren.«
    »Der Fahrer wusste aber doch, wo er hinmuss?«, fragte mein Bruder sehr höflich.
    »Reformierte Kirche in Baflo«, sagte der Chauffeur.
    »Der Wagen ist vorgefahren. Er müsste doch schon längst hier sein?«
    »Sie hätten uns eben nicht getrennt fahren lassen sollen.«
    »Sie haben mit dem Leichenwagen ein Wettrennen veranstaltet.«
    »Warum gönnen Sie uns nicht diesen kleinen Spaß?«
    Auch nachdem die sechs Töchter der Reihe nach mit sämtlichen Ehemännern und Nachkommen in diversen Kombis angekommen waren, konnte die kirchliche Trauerfeier nicht beginnen. Die Orgel spielte schon, der diensthabende Presbyter hatte uns bereits eingeladen, im
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