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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub)
Autoren: Marten t Hart
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Onkel Siem nannten, unsere schlimmsten Erwartungen. Nachdem meine Mutter zu ihm nach Baflo gezogen war, verbot er ihr, uns anzurufen. Das sei zu teuer. Sie durfte am Sonntagmorgen auch nicht mehr ihre Lieblingssendung Hour of Power sehen. Obwohl es sich dabei um die Übertragung von Gottesdiensten eines reformierten amerikanischen Pfarrers handelt, fand Onkel Siem die Sendung zu frivol, zu weltlich, zu wenig wiedergeboren. Fuhren wir quer durch die Niederlande, um unsere Mutter zu besuchen, dann sah Siem Schlump uns so unfreundlich an, dass wir lieber gingen als kamen. Also verabredeten wir uns mit unserer Mutter in schmuddeligen Gaststätten in Bethlehem oder Winsum, wohin sie dann von Baflo aus mit dem Rad fuhr.
    Meinem Bruder gegenüber beklagte sie sich in Bethlehem manchmal. Aber weil sie, wenn sie den Mund überhaupt aufmacht, alles und jeden mit feststehenden Ausdrücken abhandelt, wiederholte mein Bruder amüsiert das, was sie den Klagen anderer immer entgegenhielt: »Wer klagt, hat keine Not«, »Wir schleppen uns hier in Baflo gemächlich von einem Tag zum anderen«, »Golgotha liegt um die Ecke«, »Wir essen tapfer unser Tränenbrot«, »Mehr Herzenspein als Mondenschein«.
    Als die Alzheimerkrankheit Siem Schlump schüchtern ihre Aufwartung machte, lebte meine Mutter auf. Es fing damit an, dass er die Namen seiner Enkelkinder kaum noch zusammenbekam. Als er dann auch seine Töchter verwechselte, war er schon so dement, dass er nicht mehr protestierte, wenn meine Mutter zu Hour of Power hinüberzappte. Er sagte dann höchstens zu ihr: »Fräulein, könnten Sie das bitte ausschalten.« Zu ihrem großen Schrecken hatte er nämlich plötzlich angefangen, sie zu siezen und mit »Fräulein« anzusprechen. Sie konnte uns jetzt auch wieder anrufen. Und schließlich verstand sie es, ihn, der kaum noch etwas verstand, dazu zu überreden, nach Maasland zu ziehen.
    Nach dem Umzug hat sie sich jahrelang vorbildlich zu Hause um ihn gekümmert. Sogar als er, wenn er von der Toilette kam und seine Exkremente mitbrachte und diese, unter Hinweis auf die wundersame Speisung im Evangelium, freudig an die Anwesenden verteilte, durften wir den Ausdruck »unhaltbare Zustände« nicht in den Mund nehmen. Mein Bruder, dem Onkel Siem immer freigiebig die größten Stücke schenkte, nahm für sich in Anspruch, einen Platz in einem Pflegeheim für ihn organisiert zu haben. Zweimal am Tag besuchte meine Mutter ihn dort. Sie selbst litt inzwischen an der Parkinsonkrankheit und hatte, vor allem im Winter, Probleme, den Weg ohne Pause mit dem Fahrrad zu bewältigen. Unterwegs hielt sie beim Restaurant einer Versteigerungshalle an und ruhte sich dort im Wintergarten kurz aus. Man sagte ihr aber, dass sie dort nicht sitzen dürfe, ohne etwas zu konsumieren. Sie bestellte eine Tasse Kaffee, doch mit ihren zitternden Parkinsonhänden konnte sie die nicht trinken, ohne zu kleckern. Also bat sie um einen Strohhalm. »Strohhalme reichen wir nur zu Limonade«, sagte der Kellner barsch. Darum ließ meine Mutter den Kaffee immer unangerührt stehen.
    Als Siem Schlump schließlich nach all diesen bizarren Prüfungen ruhig verstorben war und ich vorne im Bus neben ihr saß, gelang es mir nicht herauszufinden, wie es meiner Mutter nun ging. Der Platz meines Bruders war schräg hinter uns, auf der anderen Seite des Ganges, und wir waren auf dem Weg zu einem irgendwo in der Gegend von Harderwijk am Wolderwijd gelegenen Rasthof, wo wir eine Pinkelpause einlegen wollten. Es war erstaunlich, wie furchtbar schnell wir mit dem Doppeldeckerbus dahinrasten. Als wir von der A 20 auf die A 12 abbogen, tippte mein Bruder mir auf die Schulter.
    »Setz dich mal kurz zu mir«, sagte er.
    »Was ist?«, fragte ich, nachdem ich mich neben ihm niedergelassen hatte.
    »Die machen ein Wettrennen«, flüsterte er.
    Ich schaute zum Leichenwagen, der vor uns herfuhr. Immer wieder wich er auf die linke Spur aus, um zu überholen. Unser Bus folgte ihm augenblicklich. Schnell war mir klar, dass der Leichenwagen versuchte, uns abzuschütteln. Waghalsig schlingernd, wich er nach einem solchen Überholmanöver, bei dem er, ohne zu blinken, auf die rechte Fahrbahn zurückgekehrt war, plötzlich wieder nach links aus, gab dann Gas und raste davon. Unser Chauffeur zog dann auch jedes Mal nach links rüber und trat aufs Gaspedal.
    »Müssen wir da nicht einschreiten?«, fragte mein Bruder. »Das ist Wahnsinn. Und hinzu kommt, dass der Sarg jedes Mal hochhüpft, wenn der
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