Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition)
Autoren: Kate Ellison
Vom Netzwerk:
«du bist wach. Das ist gut.» Sie riecht nach Kaffee und Medikamenten, aber darunter noch nach etwas anderem. Nach etwas Vertrautem, Mom-haftem – vielleicht ist es ihr Lavendelseifenduft – ganz schwach und ein bisschen muffig.
    «Hast du von dem ermordeten Mädchen gehört?», fragt sie mich unvermittelt. Ihre Lippen zucken kaum merklich. «Letzte Nacht. In der Lourraine Street. Im Osten der Stadt. Sie wurde erschossen, Lo.» Mom lehnt an der Wand. Ihr Blick ist verhangen, ein winterlicher Farbton, frostig. Vor Orens Verschwinden waren sie sonnig, klarer Himmel, 24 Grad. «Jemand ist einfach gekommen und hat dem Mädchen einen Revolver an den Kopf gehalten.» Sie schnalzt mit der Zunge und fährt mit scharfer monotoner Stimme fort: «Im Fernsehen sagen sie, dass die Kriminalitätsrate so hoch ist wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Drogen, glauben sie. Böse Sachen. Sie sagen, es wird hier auch immer schlimmer.»
    Lourraine Street – da war ich gestern. Mein Herz rast; ich bilde mir ein, dass Mom hören kann, wie es unter meinem T-Shirt pocht. Ich ziehe den Reißverschluss meiner grauen Kapuzenjacke bis zum Kinn hoch, für alle Fälle, und stecke die verletzte Hand in die Hosentasche. Ich tippe auf mein Bein. Neun, neun, sechs.
    «Kennst du die Gegend, Lo?», hakt sie nach. «Sie nennen sie Neverland. Die Stadt der verlorenen Kinder. Die hängen da massenweise in verlassenen Gebäuden herum, wie Obdachlose.» Sie umfasst mein Kinn und schaut mich durchdringend an. «Du gehst da doch nicht hin, oder, Penelope? Auch nicht mit deinen Freunden von der Schule?» Ihr Atem riecht nach Zigaretten. Vor ein paar Monaten hat sie wieder mit dem Rauchen angefangen, am Fenster in ihrem Zimmer.
    Ich weiche zurück. Sie sieht sehr, sehr alt aus.
    «Mom», sage ich leise. Mein Hals ist staubtrocken. «Ich gehe nicht nach Neverland, okay? Hab noch nie davon gehört.»
    «Na gut. Mehr wollte ich auch gar nicht wissen.» Und dann wird ihr Blick wieder leer, einfach so, und sie geht in ihr Zimmer zurück und schließt die Tür hinter sich.
    Ich muss mich zurückhalten, um ihr nicht hinterherzurufen: Übrigens, Mom, um mit meinen Freunden dorthin zu gehen, müsste ich erst mal welche haben. Sie weiß nichts über mein Leben – dass die Einsamkeit die einzige Konstante in meinem Leben ist, dass ich gelernt habe, auf meine Weise damit zurechtzukommen, dass ich gelernt habe, ohne Mom zurechtzukommen.
    Ich habe gelernt, ohne irgendwen zurechtzukommen.
    ***
    Es dauert nicht lange, bis ich im Internet auf den Artikel über das getötete Mädchen stoße.
    Der Artikel ist mit einer Reihe von Fotos versehen: Lourraine Street. Das komische gelbe Haus mit den Gänseblümchen. Das Haus, in dem das getötete Mädchen gewohnt hat.
    Mir stockt der Atem, dann wird mir ganz kalt. Der Lärm, den ich gehört habe – die Schüsse – die Kugel. Ich war genau da. Vier Meter entfernt. Vielleicht weniger. Ich war da, als ein Mädchen erschossen wurde. Der Schuss, der ihrem Leben ein Ende gesetzt hat, der Schuss, der beinahe auch meins beendet hätte.
    Ich schlucke trocken.
    O Gott. Ich war nur ein paar Schritte von einem Mörder entfernt. Immer wieder spielen sich die Ereignisse vor meinem inneren Auge ab – der Schuss. Das Stückchen Metall, das in die Mauer über mir dringt. Wie es im Licht der Straßenlaternen glänzt. Ich hätte etwas tun können. Ich hätte helfen können. Aber ich habe es nicht getan.
    Das Mädchen hieß Sapphire. Nur Sapphire, mehr weiß man nicht. Neunzehn Jahre alt, sie arbeitete als Stripperin. Sie tanzte in einem Club in Neverland, der Tens heißt. Auf allen Fotos trägt sie dick aufgetragenen grauen Lidschatten und viel zu viel Rouge. Sie hat einen zornigen Blick, und der blauviolette Lippenstift lässt ihre Lippen wund erscheinen – irgendwie passt er genau zu ihr. Sie sieht viel älter aus als neunzehn – liegt wohl an der Schminke, nehme ich an.
    Der Journalist beschreibt den Mord bis in alle Einzelheiten: Sie wurde überfallen, vergewaltigt und dann erschossen: der blutgetränkte Teppich, der zerschmetterte Schädel, nackte verdrehte Glieder. Eine andere Stripperin, die sie aus dem Tens kannte, zählt die Dinge auf, die gestohlen wurden. Kleine Dinge. Billige Dinge. Eine alte Holzuhr, ein paar Messingarmreifen, eine silberne Kette mit einem angelaufenen Anhänger in Form eines Pferdes, eine Schmetterlingsfigur, drei kleine Bilder, auf denen Raben zu sehen waren.
    Die Befragten sind betroffen, aber nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher