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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition)
Autoren: Kate Ellison
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aber dann wird mir ganz komisch, als ich mir einen dicken, drahtigen, feuerroten Haarflecken vorstelle, wie ein Herz, das er außen auf der Brust trägt, und ich versuche schnell, an das Meer zu denken, wie es ruhig und friedlich daliegt. Das hat mir Mrs. Freed, die Vertrauenslehrerin, geraten. Immer wenn ich mich mitten im Unterricht oder bei einem Test überfordert fühle, soll ich mir das Meer vorstellen. Manchmal macht es die Sache aber nur schlimmer, weil dann plötzlich schreckliche Dinge in den Wellen auftauchen, wie zum Beispiel Orens Leiche oder nur sein körperloser Kopf.
    Endlich trete ich – tip tip tip, Banane  – durch die schwere blaue Ausgangstür der George Washington Carver High und sauge die frostige Luft ein. Sie sticht in meiner Lunge, aber mir gefällt das Gefühl – tausend winzige, präzise Nadeln, die alle auf einmal zustechen. Auf dem Weg nach Hause taste ich noch ein paarmal nach dem kleinen Quadrat, nach Jeremys Zettel, um sicherzugehen, dass er nicht herausgefallen ist.
    ***
    Es ist so: Ich klaue nicht, weil ich es will. Ich muss es einfach tun. Ich musste schon immer bestimmte Dinge tun, seit ich sieben geworden war und darauf bestand, sechs zu bleiben. Ich wusste nicht, warum, aber sieben fühlte sich schlecht an, irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich die Welt zu sehr auf eine Seite neigte. Am Anfang war es gar nicht so schlimm. Nur Kleinigkeiten – wie das Essen auf meinem Teller aussah oder dass ich die Erbsen vor dem Hühnchen essen oder den linken Schuh vor dem rechten anziehen musste. Ich fing damit an, kleine Dinge zu nehmen – eine Zahnbürste oder einen Schokoriegel im Laden, weggeworfene Ticketschnipsel vor dem Kino, Aufkleber von den Kindern in der Schule.
    Aber seit Oren verschwunden ist, ist es schlimmer geworden. Viel schlimmer. Wenn der Drang jetzt kommt, fühlt er sich an wie eine übermenschliche Kraft, die meinen Körper ergreift und nicht nachlässt, bevor ich den Gegenstand in der Hand halte, den Gegenstand, den ich unbedingt brauche. Und es geht dabei gar nicht um das Stehlen an sich, sondern ums Haben und Behalten. Für immer. Bei mir. In Sicherheit.
    Ich nehme an, dass es ganz normal ist, sich nach schönen Dingen zu sehnen, wenn man sein ganzes Leben lang von einer hässlichen Stadt in die nächste gezogen ist. Wenn wir umziehen, dann immer an einen Ort, der in der Mitte angeknackst ist, wo es genug Krisen und Pleiten gibt, also genug zu reparieren für meinen Dad, der damit sein Geld verdient. Er sagt, die vergessenen Städte brauchen seine Stadtsanierungsberatung am meisten: Detroit, Baltimore, Cleveland, wo-auch-scheußlich-immer, USA.
    Als wir nach Cleveland umzogen, sollte es zuerst nur für sechs Monate sein, höchstens für ein Jahr. Aber wir sind jetzt schon drei Jahre hier, und ich brauche meine Schätze mehr denn je, damit ich am Morgen überhaupt aufwachen kann. Ich muss wissen, dass es Schönheit gibt, ich muss sie besitzen, mich mit ihr umgeben, von ihrer Wärme umfangen lassen.
    Manchmal brauche ich sie sogar, damit ich atmen kann. Aber auf jeden Fall um einen ganzen, langen, einsamen Tag an der High School zu ertragen.
    ***
    Als ich nach Hause komme, steht Mom barfuß vor ihrer Schlafzimmertür auf den mit beigefarbenem Teppich bedeckten Stufen. Ihr fast schwarzes Haar hängt wie meines schlaff um ihr blasses Gesicht herum, graue Strähnen, die ich bis dahin noch gar nicht bemerkt hatte, fallen darin besonders auf, silbern und wild. Das große, gerahmte Gemälde an der Wand neben der Tür – das Meer, ein weiter roter Himmel, zwei Zentimeter staubiges Ufer – lässt ihr Gesicht noch blasser erscheinen. Von hier aus führt der leere, leicht abgeschabte Flur weiter zu Orens Zimmer. Sie trägt blaue Jogginghosen aus Nicki-Stoff, die so groß sind, dass sie ihr fast von den inzwischen mageren Hüften fallen, und ein ausgeblichenes rosafarbenes Unterhemd. Sie muss sich mit Kaffee bekleckert haben, es ist vorn voller Flecken. Ihre Lider sind halb geschlossen, so wie immer. Sie sieht aus wie eine Schlafwandlerin. Als ich ihr vor ein paar Wochen ein Glas Wasser brachte, konnte ich einen Blick in ihre offenstehende Nachttischschublade werfen: Sie war voller halbleerer Tablettenfläschchen: Anafranil. Elavil. Paroxetin. Zoloft. Zopiclon. Zolpidem. Ob sie sie noch unterscheiden kann? Wahrscheinlich schüttet sie sich die Pillen einfach in die Hand und knabbert sie wie Popcorn.
    «Mom», sage ich und berühre mit den Lippen ihre kalte Wange,
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