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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition)
Autoren: Kate Ellison
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Stückchen Papier, das sich langsam auflöst. Ohne den Fetzen gehe ich nicht aus dem Haus. Und nun, in meiner Hand, der Engel.
    Die Schritte verstummen direkt hinter den Mülltonnen. Ich kann kaum atmen. Er lässt sich Zeit, versucht, mich in Sicherheit zu wiegen. Ich stelle ihn mir vor: ein großer, einsamer Mann mit einer Waffe, ein Schlurfer.
    Ich ziehe meine Beine an die Brust und beiße ins Knie, um nicht zu schreien. Wenn da draußen irgendjemand ist und mich hören kann – bitte lass mich hier nicht so sterben.
    Vielleicht hört mich tatsächlich jemand, denn da ist gar kein großer, schlurfender Mann mit einer Waffe – nur ein kleines, dünnes Mädchen in einem Mantel, der wirkt, als hätte sie sich ihn von einem Riesen ausgeliehen. Sie wankt vorbei und schleppt einen Sack Zwiebeln. Hinter den Mülltonnen fange ich laut zu flennen an. Ich werde leben. Ich wusste nicht einmal, wie sehr ich mir das gewünscht hatte.
    Das Mädchen kann nicht älter sein als elf oder zwölf. Sie hat glänzende braune Augen und schlaff herunterhängendes Haar. Als sie mich bemerkt, wendet sie den Kopf, dann hebt sie die Augenbrauen und fragt: «Wohnst du hier?» Sie zeigt auf den Durchgang hinter den Mülltonnen. «Keine Sorge. Ich hab das auch schon gemusst. Nicht weinen. Es wird besser.»
    Sie denkt, dass ich eine Ausreißerin sei. «Nein, ich … ich schlafe nicht hier. Ich versuche, zurück nach Lakewood zu kommen.» Ich bringe die Worte kaum über die Lippen, zittere immer noch.
    Das kleine Mädchen stellt den Zwiebelsack ab und wirft sich die schlaffen Haarsträhnen über die andere Schulter. «Oh, Lakewood.» Sie scheint Witterung aufzunehmen und denkt einen Moment lang nach. «Bist du ausgeraubt worden, Miss?» Immer noch schaut sie mich mit diesen glänzenden Augen an. Ihre Frage überrascht mich.
    Ich schüttelte den Kopf und versuche, mir mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
    «Also», sagt sie und verlagert das Gewicht auf das andere Bein. Sie scheint fast schon ein wenig frech zu werden. «Warum weinst du dann?»
    «Tu ich gar nicht», entgegne ich. Ich versuche, ein Schnüffeln herunterzuschlucken. «Weißt … weißt du vielleicht, wie ich von hier aus nach Hause komme?»
    Das Mädchen mustert mich. Ich zähle acht Knöpfe an ihrem Mantel; acht ist unheimlich, davon bekomme ich Gänsehaut. Zwei Vieren. Zwei weniger als zehn. Aus dem Lot geraten. Schmutzig. Als ich acht wurde, wollte ich nicht, dass Mom acht Kerzen auf die Geburtstagstorte steckte. Acht Kerzen hätten sie ungenießbar gemacht.
    «Es gibt einen Bus ein paar Blocks weiter, auf der East 117. Street», antwortet sie endlich. «Du kannst mit mir gehen. Ich muss sowieso dorthin.»
    Wir gehen die paar Blocks zum Bus gemeinsam. Ich blicke immer wieder über die Schulter in der Erwartung, dass uns jemand anfällt. In der Erwartung von mehr Kugeln, mehr splitterndem Glas.
    Das kleine Mädchen erzählt, dass sie im Diner ihrer Mutter aushilft, deshalb trägt sie den Sack mit den Zwiebeln. Aber ihre Mom ist nicht ihre richtige Mom, weil sie von zu Hause weggelaufen ist, als sie neun war. Ich erzähle ihr, dass ich adoptiert wurde und meine richtige Familie nie kennengelernt habe, aber seit Jahren nach ihr suche, überall und nirgendwo, in dunklen Einfahrten und hinter Mülltonnen. Ich sage ihr, dass ich, wenn es sein muss, bis in alle Ewigkeit nach ihr suchen werde.
    Ich weiß nicht, warum ich lüge; die Worte sprudeln einfach so aus mir heraus, ich habe keine Macht über sie. Und wer weiß? Vielleicht stimmt es ja. Vielleicht gibt es da draußen irgendwo eine ganz neue, funktionierende Familie, die nur darauf wartet, mich in ihre Arme zu schließen und endlich alles wiedergutzumachen. Vielleicht ist auch eine Bruder-Version von Oren dort und wartet auf mich.
    Das kleine Mädchen wünscht mir viel Glück, und ich sage viel zu oft Danke. Ich warte auf den 96er Bus und sehe ihr nach, wie sie sich vorwärtskämpft und dabei mit einer Hand den Zwiebelsack hinter sich herzerrt.
    Nach ein paar langen, wackeligen Minuten kommt der Bus. Ich tippe drei Mal gegen meinen Schenkel und flüstere das Wort Banane , damit ich einsteigen kann, damit alles richtig ist.

    Als ich in die dritte Klasse ging, wohnten wir für sechs Monate in Kankakee in einem Betonklotz zwischen Maispflanzen, die mir bis zum Hals reichten. Es war Shelby-Michelle Packer, die herauskriegte, dass ich mir immer auf den Schenkel tippen musste, wenn ich in Mathe aufgerufen wurde.
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