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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition)
Autoren: Kate Ellison
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Ich konnte einfach nicht antworten, bevor ich die richtige Folge getippt hatte (damals war es sechs Mal auf jeder Seite, aber die richtige Antwort wollte mir trotzdem nicht einfallen). Ich spürte, dass die Augen meiner Mitschüler auf mich gerichtet waren. Shelby verkündete so laut, dass alle es hören konnten: «Lo, du bist ja völlig Banane .»
    Kaum hatte sie das Wort gesagt, fiel mir plötzlich die Antwort ein: vierzehn Enten. An die Frage kann ich mich nicht mehr erinnern, aber Banane war ein Zeichen, es machte alles gut.

    Der Bus ist fast leer. Endlich atme ich aus. Mein Gesicht schwebt im Fenster: geschwollene Augen, geisterhaft blasse Haut. Ich schaue weg. Ich sauge an der dunklen Schnittwunde in der Handfläche und an den gerade getrockneten Blutflecken auf den Lippen. Im hinteren Teil des Busses hält eine Frau mit strähnig-blonden Haaren ein weinendes Baby im Arm. Sie starrt aus dem Fenster und versucht gar nicht erst, ihr Kind zu beruhigen. Das Baby weint und weint, und ich schaue zu, wie sich die Straßen auf der anderen Seite des Fensters verändern. Die Welt aus kleinen dunklen Häusern und rissigen Straßen verwandelt sich in eine Welt aus umsichtig geplanten, von Bäumen gesäumten Sackgassen und Steinhäusern und einer Menge leuchtender Straßenlaternen. Ich drücke auf den Halteknopf und steige aus dem Bus. Das Baby weint in meinem Kopf weiter.
    ***
    Zu Hause ist alles dunkel. Ein leises Gemurmel dringt aus dem Elternschlafzimmer im oberen Stockwerk, vermutlich der Fernseher. Dad ist bestimmt immer noch bei der Arbeit. Mom begrüßt mich nicht, aber das erwarte ich auch gar nicht. Ich gehe an Orens Zimmertür vorbei, die jetzt für immer geschlossen bleibt, und schleiche ungestört nach oben in mein Dachzimmer, von dem aus ich alles im Blick habe, von dem aus alles wie ein warmer glitzernder See vor mir liegt. Ich glaube, in diesem Moment atme ich zum ersten Mal an diesem Tag durch. Ich nehme die kleine Engelsfigur aus meiner Jackentasche und drücke sie an die Wange.
    Dann stelle ich sie in eine kleine Lücke zwischen andere vollkommene, glatte und glänzende Figuren – zwischen andere Marmormänner und -frauen und in einige Entfernung von den Steinpferden und -wölfen und -bären.
    Ich summe vor mich hin, ohne zu wissen, welches Lied, und fühle mich langsam besser. Die Kugel hat es nie gegeben. Ich tue so, als hätte ich sie nur geträumt: das Geräusch, das splitternde Glas. Aber meine immer noch blutverkrustete Hand pocht.
    Ich binde mein dunkles Haar auf dem Kopf zusammen und gehe ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. Ein paar Sekunden lang starre ich mich im Spiegel an und betrachte die Schmutz- und Blutspuren auf Wangen und Kinn. Dann wasche ich mir drei Mal das Gesicht und massiere Creme mit Orangenduft in die Haut ein, streiche die fettigen Ponysträhnen aus der Stirn und fahre mit dem Finger die winzige Narbe über dem linken Auge nach. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Narbe oder die Ponyfransen. Ich streiche sie nach links, dann nach rechts und dann wieder zurück, bis ich sie einfach über die Stirn fallen lasse. Ich sehe aus wie ein schlechtfrisierter Pudel.
    In meinem Zimmer ziehe ich mich aus und werfe ein warmes, weiches T-Shirt über, das mir fast bis zu den Knien reicht. Es hat Oren gehört. Dann seufze ich und falle endlich ins Bett. Erleichtert. Sauber. Ganz. Mein Engel summt mit mir, und wir fallen gemeinsam in den Schlaf.
    Aber meine Träume sind voller Löcher, die tief in die Erde gegraben sind, fleckiges Gras, ein Grab.
    Orens Grab. Orens Beerdigung. Menschen in einer Reihe, ausdruckslose Gesichter, alle schweigen außer Mom, die schluchzt, während Dad sie zu stützen versucht. Die Sonne verschwindet. Die Erde unter unseren Füßen ist schon ganz matschig. Regen. Regen. Regen. Auf dem Sargdeckel sitzt der Marmorengel. Jetzt ist er fort, und Oren ist da. Orens grüne Augen, die mich ansehen. Sein großer, schlanker Körper. Das Muttermal, genau in der Mitte der Stirn. Er sitzt auf seinem eigenen Grab und pfeift. Plötzlich sagt er: «Ich hab meine Tigers-Baseballkappe verloren, Lo. Hilf mir, sie wiederzufinden.» Ich weiche zurück, der Regen lässt Orens Gesicht verschwimmen. «Lope, ich brauche dich», sagt er jetzt drängender. Aber der Regen würgt mich, und ich kann Oren nicht mehr sehen, ich höre nur noch seine Stimme, verzweifelt, immer schwächer werdend: «Ich hab meine Mütze verloren. Du musst mir helfen, Lo.»
    Obwohl ich ihn nicht mehr
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