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Schmerzverliebt

Schmerzverliebt

Titel: Schmerzverliebt
Autoren: Kristina Dunker
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wundert, dass Papas Kollegen ihn im Lehrerzimmer noch nicht darauf angesprochen haben, und unter Musikmachen verstehe ich längst nicht mehr die dämliche Akkordeonklimperei im Gemeindehaus, sondern mich um das Casting für die Pop-Band zu kümmern. Ich rauche seit zwei Jahren, habe ein Piercing im Bauchnabel und ein Tattoo am Ringfinger, und Conny und ich haben mehr dumme Sprüche auf Linienbussitze gekritzelt, als in unserem Abreißkalender stehen.
    Eines Tages werde ich mich vor einen Zug werfen, und keiner wird verstehen, warum ich es getan habe. Ich weiß eigentlich selber nicht, was mich so fertig macht.
    Ich gehe in die Küche, setze mich auf den Boden neben dem Kühlschrank, nehme eine Hand voll Eiswürfel aus dem Gefrierfach und lasse sie mir in den Mund klappern. Das ist ein Gefühl, als würden mir alle Zähne gleichzeitig gezogen. Dabei denke ich an Sebastian. Es war schön, ihn zu küssen. Er ist ein Naturtalent, er hat schnell gelernt, und einmal auf den Geschmack gekommen, konnte er nicht mehr damit aufhören. Sein Mund war warm und weich. Seine Hände haben mein Gesicht gestreichelt, und jedes Härchen, jede Pore, jede Zelle hat ihre Berührung genossen. Wir haben nach dem Einkauf auf dem Heimweg kein Wort mehr gesprochen, wir haben nur geknutscht. Zum Abschied hat er gesagt, dass er mich liebt.
    Ich öffne den Mund und lasse die Eiswürfel kraftlos herauskullern. Sie rutschen über meine Brust und zwischen meinen Beinen hindurch auf die Fliesen. Spucke läuft mir das Kinn hinab, vermischt sich mit Tränen.
    Ich bin das Allerletzte. Sebastian wird jetzt sauber und selig in seinem Bett liegen und an das schöne Bild denken, das er von mir hat. Ich sitze besabbert in der Ecke, mein Mund ist taub und meine Schnittwunden an den Armen schmerzen mehr denn je. Ich frage mich, was geschieht, wenn sie sich entzünden. Zu unserem Hausarzt kann ich nicht mehr gehen, der hat mir letztes Mal schon die Geschichte mit der aggressiven Hauskatze nicht abkaufen wollen. Und was wird Sebastian sagen, wenn er erst dahinterkommt?

6 Sebastian
    Der Tag beginnt mit Vogelgezwitscher. Das ist Musik in seinen Ohren. Sebastian räkelt sich genüsslich im Bett hin und her. Gestern, denkt er, ist mir was Unglaubliches passiert. Dann grinst er. Springt aus dem Bett, steigt in die Klamotten, trinkt nur ein Glas Orangensaft und ist schon draußen vor der Tür, bevor der Rest der Welt sich überhaupt den Schlaf aus den Augen gerieben hat. Er eilt hinüber zur Garage und holt sein Fahrrad heraus. Es erinnert ihn an die Zuckermäuse, aber er kann den Gedanken beiseite schieben, sich hinaufschwingen und losradeln, durch die Siedlung, an der Bahnlinie entlang und hinein in den Wald bis zum Angelteich.
    Am frühen Samstagmorgen ist dort kein Mensch. Er zieht seine Sachen aus und lässt sich ins Wasser gleiten. An der Oberfläche ist es lauwarm, aber die tieferen Schichten sind ziemlich kalt. Sebastian schnappt nach Luft, stößt einen leisen Schrei aus. Dann schwimmt er, dreht sich auf den Rücken, lässt die Arme kreisen, sieht den Himmel über sich. Er weiß nicht, wann er sich je besser gefühlt hat.
    Auf dem Heimweg kauft er Brötchen und Croissants und bringt sie seinem Vater mit, der bereits Kaffee gekocht hat.
    »Nanu, so früh schon unterwegs?« Sein Vater streckt freudig die Hand nach der Brötchentüte aus.
    »Allerdings.« Sebastian nimmt ein Küchentuch, reibt sich damit die Haare trocken, wirft einen kurzen Blick in den Spiegel im Flur und lässt sich grinsend auf einen Stuhl fallen.
    »Alles klar?«, fragt sein Vater erstaunt.
    »Danke. Bestens.«
    »Hast du gestern einen schönen Abend gehabt?«
    »Ja, kann man so sagen.«
    Sein Vater hebt sein Croissant in die Höhe. »Na, dann guten Appetit!«
    Nun grinsen sie beide.
    Beim dritten Kaffee erzählt sein Vater mit Lachtränen in den Augen von seiner ersten Freundin, die er in einem Pfadfinderlager kennen gelernt hatte, damals, als alles verklemmter und verzwickter war und es noch ein Skandal war, als das erste Mädchen seines Dorfes einen Bikini trug und seine Mutter ihn beim Schmusen mit der Freundin erwischte. Es geht Sebastian richtig gut, er leckt sich Nutella von den Fingerspitzen und fühlt sich gleichzeitig, als seien in den letzten Stunden tonnenschwere Gewichte von seinen Schultern gefallen, als das Telefon klingelt.
    »Ich geh ran«, sagt er und muss aufpassen, dass er das Nutella nicht an den Hörer schmiert.
    »Sebastian Kramer.« Sein Name ist ihm nie so schön
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