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Schmerzverliebt

Schmerzverliebt

Titel: Schmerzverliebt
Autoren: Kristina Dunker
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ruft Benne. »Das war’n höchstens dreißig Cent, die ich verbraucht habe!«
    »Wirklich, Püppi, sei nicht immer so kleinlich! Geiz ist kein feiner Charakterzug …«
    »Ich bin nicht geizig!«, rufe ich verzweifelt, unsicher darüber, ob sie nun Recht hat oder nicht. »Außerdem stehst du immer auf seiner Seite!«, füge ich sicherheitshalber hinzu und lasse die beiden stehen. Doch sie folgen mir in mein Zimmer, in dem ich hastig meine Sportsachen in die Trainingstasche stopfe.
    »Hier hast du fünf Euro. Nimm, dann hast du sogar noch dran verdient!« Benne wedelt mit einem Geldschein vor meinem Gesicht hin und her.
    »Behalt’s! Lass mich! Ich will’s nicht!«, rufe ich und schlage nach seinem Arm.
    »Au!«
    »Püppi«, sagt meine Mutter sanft. »Deine Wut ist jetzt aber ungerecht.«
    Ich antworte nicht, habe Mühe, nicht in Tränen auszubrechen, und knülle verbissen Socken, T-Shirts und Handtücher in die alte Tasche.
    »Püppi, sieh mich an! Du weißt, ich hab’s nur gut gemeint. Als deine Mutter muss ich dich doch auf deine Fehler aufmerksam machen.«
    Ich weiß es, Mama, ja, ich weiß es, du willst nur, dass ich noch etwas für mein Leben lerne, aber ich zeige mich uneinsichtig wie der verflixte Reißverschluss, der hakt, sich an sich selbst festbeißt und sich nicht schließen lassen will.
    »Wenn du so dran herumzerrst, geht der Verschluss noch ganz kaputt!«, sagt Benne und will sich bücken, um mir zu helfen, aber da bin ich schon aufgesprungen, habe meine Tasche umklammert und bin zur Tür hinaus.
    »Dann eben nicht!«, brummt Benne beleidigt.
    »Bleib doch! Niemand meint es böse!«, sagt meine Mutter.
    »Zum Mittagessen bin ich wieder da«, rufe ich über die Schulter zurück und ärgere mich, dass meine Stimme nach Schluchzern klingt.
    »Auftritt Pia!« Bevor ich den CD-Player anschalte, horche ich noch einmal auf eventuelle Geräusche von außen. Da ist nichts außer dem Rascheln der Amseln in den Brennnesseln und Büschen vorm Fenster und dem Summen einer Biene, die sich, wahrscheinlich vom Duft meiner Apfelsaftflasche angelockt, in den düsteren Raum verirrt hat. Ich drücke die Starttaste und beginne zu tanzen. Meine Schritte knirschen auf dem eingerissenen Linoleum, Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der mit Brettern vernagelten Fenster dringen, malen Streifen auf meine bloßen Arme. Die drei neuen Narben sind dick mit Salbe eingeschmiert, heilen bereits und werden am Freitag beim Casting wohl kaum noch zu sehen sein. Ich bewege mich konzentriert, drehe mich, strecke mich und wackle mit den Hüften, so wie wir es im Jazz-Tanz-Kurs gelernt haben. Nach einer halben Stunde rinnt mir der Schweiß von der Stirn, ich tanze weiter, bin an einem Punkt, an dem meine Arme Flügel sind und die Musik der Aufwind, der mich nach oben trägt.
    Auch meine Gedanken fliegen durch die Luft: Ich erinnere mich, wie der Bahnhof vor langer Zeit stillgelegt wurde, wie wir dann als Kinder auf dem verlassenen Gelände spielten, wie die Gleise zuwuchsen und die Wege verwilderten, wie unsere Katzen hier herumstreunten, wie Mohrle hier Junge zur Welt brachte und Pablo Kaninchen jagte, wie schön das alles war, bis die Tiere vor einem Jahr beide plötzlich spurlos verschwanden und wir sie dann hier überall suchten, verzweifelt ihre Namen riefen, lockten, weinten.
    Ich stoppe, nehme einen Schluck aus meiner Saftflasche, helfe der eingesperrten Biene, wieder nach draußen zu finden, und starte noch einmal die CD. Noch mal das ganze Programm. Der kleine Raum hier, die ehemalige Schalterhalle, ist zum Proben perfekt. Niemand stört mich hier, weder Benne, der sagt, ich sei tollpatschig wie eine Ente und würde den Wettbewerb nie gewinnen, noch meine Eltern, die »die heutige hirnlose Krachmusik« nicht ertragen können.
    Hier kann ich ganz in Ruhe tanzen. Ich stelle mich vor Omas alten Spiegel, den ich aus unserem Keller entführt und hergeschleppt habe, zupfe mir die Haare zurecht, lache mich an und sage: »Ich werde es schaffen. Ich kann tanzen, ich kann singen, ich sehe toll aus.« Es klingt fast überzeugend, es geht mir gut. Ich lasse mich auf die Turnmatte sinken, die ich für Bodenübungen organisiert habe, rücke näher an den Spiegel heran, blecke die Zähne, ziehe eine Fratze, sage »Sebastian«, ohne zu wissen, wieso ich das sage, aber weil ich es schon einmal gesagt habe, kann ich es auch gleich noch mal tun, »Se-bas-ti-an«, ich verdrehe die Augen, schnappe nach Luft, gluckse vor Glück und schiebe den Namen
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