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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas
Autoren: Jeanette Walls
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gleichen
    Bewegungsabläufe beruhigten mich, und manchmal ging ich abends noch einmal Schlittschuh laufen und kam erst nach Hause, wenn es schon spät und ich erschöpft war. Ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es nicht ausreichte, einfach nur in Bewegung zu sein, dass ich mein ganzes Leben überdenken musste.
    Ein Jahr nach Dads Tod trennte ich mich von Eric. Er war ein guter Mann, aber nicht der Richtige für mich. Und auf die Park Avenue gehörte ich auch nicht.
    Ich mietete eine kleine Wohnung auf der West Side. Sie hatte keinen Pförtner und auch keinen Kamin, aber große, helle Fenster und einen Parkettboden und eine kleine Diele, wie in der Wohnung, die Lori und ich in der Bronx gehabt hatten. Jetzt stimmte alles.
    Ich ging nicht mehr so oft Schlittschuh laufen, und als meine Schlittschuhe gestohlen wurden, kaufte ich mir keine neuen. Mein Zwang, immer in Bewegung zu sein, ließ allmählich nach. Aber ich unternahm spätabends gern lange Spaziergänge, häufig bis an den Fluss. Die Lichter der Stadt verbargen die Sterne, aber in klaren Nächten konnte ich die Venus am Horizont sehen, wo sie hoch über dem dunklen Wasser stetig leuchtete.

V
Thanksgiving
    Ich stand mit meinem zweiten Mann John auf dem Bahnsteig. Ein Pfeifen ertönte in der Ferne, rote Lichter blinkten, und eine Glocke bimmelte, als die Schranken sieb über die Fahrbahn senkten. Das Pfeifen gellte erneut, und dann kam der Zug zwischen den Bäumen um die Kurve und rollte auf den Bahnhof zu, die großen Doppelscheinwerfer matt im hellen Sonnenlicht des Novembernachmittags.
    Der Zug kam zum Stehen. Die Elektromotoren summten und vibrierten, und dann, nach einer langen Pause, öffneten sich die Türen. Passagiere mit zusammengefalteten Zeitungen und Reisetaschen und knallbunten Mänteln strömten heraus. Durch die Menge hindurch sah ich, wie Mom und Lori aus dem hinteren Wagon stiegen, und ich winkte.
    Fünf Jahre waren seit Dads Tod vergangen. Ich hatte Mom seitdem nur sporadisch gesehen, und sie hatte bislang weder John kennen gelernt noch das alte Farmhaus gesehen, das wir ein Jahr zuvor gekauft hatten. Es war Johns Idee gewesen, sie und Lori und Brian zu Thanksgiving einzuladen, das erste Walls-Familientreffen seit Dads Beerdigung.
    Mom strahlte übers ganze Gesicht und kam auf uns zugeeilt. Statt eines Mantels trug sie an die vier Pullover übereinander, so sah es jedenfalls aus, dazu ein Schultertuch, eine Kordhose und alte Turnschuhe. In jeder Hand hatte sie eine voll gestopfte Einkaufstüte. Lori, direkt hinter ihr, trug ein schwarzes Cape und einen Filzhut. Die beiden waren ein Bild für die Götter.
    Als Mom mich erreichte, umarmte sie mich. Ihr langes Haar war fast ganz grau, aber ihre Wangen waren rosig und ihre Augen so leuchtend wie eh und je. Dann umarmte Lori mich, und ich stellte John vor.
    »Entschuldigt meinen Aufzug«, sagte Mom, »aber zum Abendessen ziehe ich meine bequemen Schuhe aus und meine schicken an.« Sie griff in eine von ihren Einkaufstüten und holte ein Paar abgelaufene Halbschuhe hervor.
    Die gewundene Straße zurück zum Haus führte unter Steinbrücken hindurch, durch Wälder und kleine Dörfer und an Teichen vorbei, wo Schwäne auf spiegelglattem Wasser schwebten. Die meisten Blätter waren schon abgefallen und wurden von Windböen am Straßenrand entlanggewirbelt. Durch das kahle Geäst der Bäume konnte man Häuser sehen, die im Sommer unsichtbar waren.
    Während John fuhr, erzählte er Mom und Lori etwas über die Gegend, über die Entenfarmen und die Blumenfarmen und dass der Name unseres Städtchens indianischen Ursprungs war. Ich saß neben ihm, betrachtete sein Profil und musste unwillkürlich schmunzeln. John schrieb Bücher und Artikel für Zeitschriften. Wie ich war er in seiner Kindheit und Jugend oft umgezogen, aber seine Mutter war wahrhaftig in einem Appalachen-Dorf in Tennessee groß geworden, zirka hundert Meilen südwestlich von Welch. Man konnte also durchaus sagen, dass unsere Familien aus derselben Gegend stammten. Ich war vor ihm noch keinem Mann begegnet, bei dem ich mich so wohl fühlte. Ich liebte ihn aus vielerlei Gründen. Er kochte ohne Rezept. Er vermasselte jedes Mal die Pointe, wenn er einen Witz erzählte. Seine große, warmherzige Familie hatte mich voll und ganz in ihrer Mitte aufgenommen. Und als ich ihm zum ersten Mal meine Narbe zeigte, sagte er, sie sei interessant. Er benutzte das Wort »gemasert«. Er sagte, glatt sei langweilig, aber gemasert sei interessant, und
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