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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas
Autoren: Jeanette Walls
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habe.«
    Ich lachte nervös, blickte dann Mom an, die ohne ein Wort nach ihrem Skizzenblock gegriffen hatte.
    Dad beobachtete mich aufmerksam. Er reichte mir die Wodkaflasche. Ich trank zwar so gut wie nie, nahm aber einen kleinen Schluck und spürte ein Brennen, als mir der Alkohol durch die Kehle rann.
    »An das Zeug könnte ich mich gewöhnen«, sagte ich.
    »Besser so«, sagte Dad.
    Dann erzählte er mir, dass er sich bei einer blutigen Schlägerei mit ein paar nigerianischen Drogenhändlern eine seltene Tropenkrankheit eingehandelt hatte. Die Ärzte, sagte er, hatten ihm eröffnet, dass die seltene Krankheit unheilbar sei und er nur noch ein paar Wochen zu leben habe.
    Es war eine lächerliche Räuberpistole. Tatsache war dagegen, dass Dad zwar erst neunundfünfzig war, aber seit seinem dreizehnten Lebensjahr vier Schachteln Zigaretten am Tag rauchte und tagtäglich eine ordentliche Menge Hochprozentiges in sich hineinschüttete. Er war, wie er selbst schon oft gesagt hatte, förmlich in Alkohol eingelegt.
    Aber obwohl er in unserem Leben so viel Randale gemacht und so viel Zerstörung und Chaos angerichtet hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, wie mein Leben - wie die Welt -wäre, wenn er nicht mehr darin vorkam. So fürchterlich er auch sein konnte, ich wusste immer, dass er mich so liebte wie kein anderer. Ich sah zum Fenster hinaus.
    »He, ja kein Rotz-und-Wasser-Geheule um den armen alten Rex, sagte Dad. »Das will ich nicht, weder jetzt, noch wenn ich tot bin.«
    Ich nickte.
    »Aber du hast deinen alten Herrn immer geliebt, nicht?«
    »Ja, Dad«, sagte ich. »Und du hast mich geliebt.«
    »Das ist so wahr wie das Amen in der Kirche.« Dad lachte leise. »Wir haben schon tolle Zeiten erlebt, was?«
    »Stimmt.«
    »Das Schloss aus Glas haben wir nie gebaut.«
    »Nein. Aber es hat Spaß gemacht, es zu planen.«
    »Und die Pläne waren verdammt gut.«
    Mom hielt sich aus dem Gespräch heraus und zeichnete leise vor sich hin.
    »Dad«, sap;te ich. »Es tut mir Leid, ich hätte dich wirklich bitten sollen, zu meiner Abschlussfeier zu kommen.«
    »Schnee von gestern«, sagte er lachend. »Feierlichkeiten haben mir nie was bedeutet.« Er nahm wieder einen Schluck aus seiner Jumboflasche. »Ich bereue so einiges in meinem Leben«, sagte er. »Aber auf dich bin ich verdammt stolz, Bergziege, auf das, was aus dir geworden ist. Wenn ich an dich denke, dann weiß ich, dass ich doch irgendwas richtig gemacht haben muss.«
    »Klar hast du das.«
    »Dann ist ja gut.«
    Schließlich musste ich gehen. Ich gab beiden einen Kuss und drehte mich an der Tür noch einmal zu Dad um.
    »He«, sagte er. Er zwinkerte und zeigte mit einem Finger auf mich. »Hab ich dich je enttäuscht?«
    Er lachte in sich hinein, weil er wusste, dass es nur eine mögliche Antwort auf diese Frage gab. Ich lächelte bloß. Und dann schloss ich die Tür.
    Zwei Wochen später hatte Dad einen Herzinfarkt. Als ich ins Krankenhaus kam, lag er auf der Intensivstation, die Augen geschlossen. Mom und Lori standen neben ihm. »Nur die Maschinen halten ihn noch am Leben«, sagte Mom.
    Ich wusste, dass Dad es gehasst hätte, die letzten Augenblicke seines Lebens an Apparate in einem Krankenhaus angeschlossen zu sein. Er hätte sich gewünscht, irgendwo draußen in der freien Natur zu sein. Er hatte immer gesagt, wir sollten ihn, wenn er starb, oben auf einen Berg legen und seinen Leichnam von Bussarden und Kojoten zerreißen lassen. Ich spürte den verrückten Impuls, ihn auf den Arm zu nehmen und mit ihm durch die Tür zu verschwinden - ein letztes Mal nach alter Rex-Walls-Manier zu türmen. Stattdessen nahm ich seine Hand. Sie war warm und schwer. Eine Stunde später stellten sie die Apparate ab.
    In den Monaten danach packte mich immer wieder der Wunsch, irgendwo anders zu sein als da, wo ich war. Wenn ich in der Redaktion war, wollte ich zu Hause sein. Wenn ich zu Hause war, trieb es mich nach draußen. Wenn ich in einem Taxi saß, das länger als eine Minute im Stau feststeckte, stieg ich aus und ging zu Fuß. Ich fühlte mich am besten, wenn ich in Bewegung war, wenn ich irgendwohin unterwegs war, mich nirgends aufhielt. Ich fing mit Schlittschuhlaufen an. Ich stand frühmorgens auf und spazierte durch die stillen, vom Dämmerlicht erhellten Straßen zur Eisbahn, wo ich mir die Schlittschuhe so fest zuband, dass mir die Füße pochten. Ich genoss die betäubende Kälte und den Schock, wenn ich auf das harte, nasse Eis stürzte. Die schnellen, immer
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