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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas
Autoren: Jeanette Walls
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Zigaretten zu holen. Ich rief sie an und konnte sie überreden, mich besuchen zu kommen und über ihre Zukunft zu sprechen. Als sie kam, erkannte ich sie kaum wieder. Sie hatte sich die Haare und Augenbrauen platinblond gefärbt und trug dunkles Makeup, das so dick aufgetragen war wie bei einem Kabuki-Tänzer. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und blickte sich immer wieder im Zimmer um. Als ich ihr ein paar Berufsvorschläge machte, sagte sie, sie wüsste, was sie wollte, nämlich den Kampf gegen die Mormonensekten unterstützen, die in Utah Tausende von Menschen gekidnappt hatten.
    »Was für Sekten?«, fragte ich.
    »Tu nicht so, als wüsstest du von nichts«, sagte sie. »Das beweist nur, dass du eine von denen bist.«
    Anschließend rief ich Brian an. »Meinst du, Maureen nimmt irgendwas?«, fragte ich.
    »Wenn nicht, sollte sie damit anfangen«, sagte er. »Sie ist komplett durchgedreht.«
    Ich sagte Mom, dass Maureen professionelle Hilfe bräuchte, aber Mom behauptete, Maureen bräuchte nur frische Luft und Sonnenschein, mehr nicht. Ich sprach mit verschiedenen Ärzten, aber sie meinten, dass Maureen, da sie allem Anschein nach nicht bereit war, sich selbst Hilfe zu suchen, nur auf gerichtliche Anordnung hin behandelt werden könne, falls sich herausstellte, dass sie für sich oder für andere eine Gefahr darstellte.
    Sechs Monate später ging Maureen mit einem Messer auf Mom los. Mom war zu dem Schluss gekommen, dass Maureen endlich ein bisschen Selbstständigkeit lernen sollte, und hatte ihr nahe gelegt, sich eine eigene Wohnung zu suchen.
    Gott hilft denen, die sich selbst helfen, hatte sie zu Maureen gesagt, und es sei besser für sie, das Nest zu verlassen und sich auf eigene Beine zu stellen. Maureen war schockiert, dass ihre eigene Mutter sie vor die Tür setzen wollte, und drehte durch. Mom verwahrte sich energisch dagegen, dass Maureen sie hatte umbringen wollen - sie sei einfach völlig durcheinander und aufgewühlt gewesen, sagte sie -, aber die Wunden mussten genäht werden, und die Polizei nahm Maureen fest.
    Zwei Tage später war das Anklage-Eröffnungsverfahren. Mom und Dad und Lori, Brian und ich waren da. Brian war stinksauer. Lori war tieftraurig. Dad war angetrunken und legte sich mehrmals mit den Wachleuten an. Aber Mom wirkte wie immer - unbekümmert in Zeiten der Not. Während wir auf den Bänken im Gerichtssaal warteten, summte sie unmelodisch vor sich hin und zeichnete die anderen Zuschauer.
    Maureen kam in orangefarbener Gefängniskluft und mit Handschellen in den Saal geschlurft. Ihr Gesicht war aufgedunsen, und sie wirkte benommen, aber als sie uns sah, lächelte sie und winkte. Ihr Anwalt beantragte Kaution. Ich hatte mir von Eric einige tausend Dollar geliehen und hatte das Geld bar in meiner Handtasche. Doch nachdem die Richterin die staatsanwaltliche Version des Tathergangs gehört hatte, schüttelte sie ernst den Kopf. »Antrag abgelehnt«, erklärte sie.
    Draußen auf dem Flur gerieten Lori und Dad in einen lautstarken Streit darüber, wessen Schuld es sei, dass Maureen durchgedreht war. Lori schob sie Dad zu, weil er für die krank machende Umgebung von Maureen verantwortlich gewesen sei, und Dad hielt dagegen, Maureens Gehirn ticke einfach nicht sauber. Mom warf ein, das viele Fast Food, das Maureen gegessen hatte, habe ein chemisches Ungleichgewicht verursacht, und dann schrie Brian alle an, sie sollten verdammt noch mal die Klappe halten, sonst würde er sie festnehmen. Ich stand bloß da, blickte von einem verzerrten Gesicht zum anderen und hörte mir das wütende Gezeter an, in dem die Mitglieder der Familie Walls ihrem in all den Jahren angestauten Schmerz, Zorn und Kummer Luft machten und sich gegenseitig die Schuld dafür gaben, dass die Zarteste von uns zusammengebrochen war.
    Die Richterin wies Maureen in eine Klinik ein. Als sie ein Jahr später entlassen wurde, kaufte sie sich als Erstes eine Busfahrkarte nach Kalifornien. Ich sagte zu Brian, wir müssten sie daran hindern. Sie kannte ja keine Menschenseele in Kalifornien. Wie sollte sie das überleben? Aber Brian meinte, es sei das Beste, was sie machen könne. Sie müsse einfach so weit wie möglich von Mom und Dad und wahrscheinlich auch von uns Übrigen weg.
    Ich musste Brian Recht geben. Aber ich hoffte auch, dass Maureen deshalb nach Kalifornien wollte, weil sie es als ihre wahre Heimat sah, den Ort, wo sie wirklich hingehörte, wo es immer warm war, wo man im Regen tanzen, die Trauben direkt vom
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