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Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf
Autoren: Ulrich Ritzel
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nicht die Nerven. Nicht für so etwas. Er blickt sich im Wagen um, und erst jetzt sieht er, dass die Polen – die mit ihm und der Alten eingestiegen sind – ihm zugesehen haben, wie er die Tasche der Alten mustert, und der eine von den Männern kneift das eine Auge zu und hebt warnend den Zeigefinger … Der Zug wird langsamer, die Bremsen beginnen zu greifen, vor dem Fenster wird es hell, und der Junge drückt hastig auf den Türöffner, der Zug kommt zum Halten, fauchend öffnet die Hydraulik die Tür, André springt nach draußen, so eilig, dass er beinahe mit einem älteren Herrn zusammenstößt.
    »Warum so eilig, junger Mann? Du hast doch noch alle Zeit der Welt!«
    »Entschuldigung«, bringt André heraus und läuft weiter.
    D er Mann in dem anthrazitgrauen Lodenmantel geht die Friedhofsmauer entlang und biegt dann nach links ab, in eine Straße mit kleinen Restaurants und einzelnen Läden, bis er zu einem schmalen Haus mit einer schmutziggelben Fassade kommt, durch die sich frische Risse ziehen. Neben dem Klingelbrett ist ein Messingschild mit der Aufschrift: »Hans Berndorf, Ermittlungen« angebracht, an dem – schon vor einigen Monaten – irgendjemand Anstoß genommen und es mit roter Farbe übersprüht hat. Inzwischen ist es gereinigt worden, aber noch immer haften Farbreste an den Rändern und Zwischenräumen der Buchstaben.
    Der Mann tritt ein, geht ins Hochparterre und schließt die Tür zu dem Büro auf, das er vor zwei Jahren von einem in Konkurs gegangenen Versicherungsmakler übernommen hat. Er zieht seinen Mantel aus und hängt ihn in den Garderobenschrank im Flur, geht dann durch die beiden Räume – von denen der eine als Wartezimmer dient und der andere als Büro – und öffnet überall die Fenster, um für Durchzug und frische Luft zu sorgen. Einen Augenblick lang verharrt er hinter seinem Schreibtisch, denn dort hängt die gerahmte Fotografie eines hohen Kirchturms, und sie hängt schief. Er rückt sie gerade, das ist er dem Ulmer Münster schuldig. Wie oft hat ihn sein Weg daran vorbeigeführt, in jenem früheren Leben, als er Kriminalbeamter war im Neuen Bau zu Ulm an der Donau? Vorbei! In der winzigen Küche füllt er den Wasserkocher und stellt ihn an, weil er sich eine Kanne Tee aufgießen will, dann schaltet er das kleine Transistor-Radio ein, das auf dem Küchenregal steht. Die Nachrichten haben schon begonnen, in der Regierung streitet man sich. Worüber? Der Nachrichtensprecher kündigt ein Interview mit der Fraktionsvorsitzenden der kleineren, der kleinfeinen Regierungspartei an, und Berndorf stellt den Ton ab.
    Während der Tee zieht, blättert er die ersten der beiden Zeitungen durch, die er mitgebracht hat, und zwar zuerst das Berliner Blatt – jenes, das von den Berliner Blättern das am wenigsten unlesbare ist –, am Hindukusch hat es Tote gegeben, mehr als sonst, auffällig mehr, weshalb, warum? Er müsste es nachlesen, jeder anständige Mensch müsste wissen wollen, warum so etwas geschehen kann und sich nicht hat vermeiden lassen. Aber gerade darum hat er keine Lust, nur weil er eine Zeitung gekauft hat, will er sich nicht entrüsten müssen, nicht so, als hätte er eine Schachtel Zigaretten gekauft und müsse sich jetzt eine davon anzünden … Von einem Unfall beim Alten Garnisonfriedhof steht nichts drin, natürlich nicht, es muss ja spät in der Nacht gewesen sein, so hat der Junge es behauptet. Sein Blick fällt auf das Foto einer Kirchenruine, das gut erhaltene gotische Chorgewölbe hebt sich malerisch gegen den Himmel ab, es ist die Ruine der Franziskanerkirche, zwölftes oder 13. Jahrhundert, und sie steht nicht tief und von der Zeit vergessen in einem brandenburgischen Wald, sondern mitten in Berlin, nah beim Alex, und irgendwelche Nonnen haben dem Magistrat angeboten, die Ruine – unter Wahrung aller denkmalpflegerischen Kriterien, wie es in der Zeitung heißt – zu einer Begegnungsstätte auszubauen, und zwar für alle, die in der Stille Gott suchen …
    Stille? Gott suchen? Das wird dem Magistrat aber ein böhmisches Dorf sein, das eine wie das andere, denkt Berndorf, faltet die Zeitung wieder zusammen, nimmt den Einsatz mit dem Teefilter aus der Kanne und schenkt sich ein. In der Deutschland-Ausgabe der Münchner Zeitung steht noch nichts von dem Fliegerangriff auf die Tanklastwagen, aber er findet – weil er danach gesucht hat – einen Hintergrundbericht über eine Tagung am Starnberger See, und tatsächlich kommt ein bestimmter Name darin vor:
    So
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