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Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf
Autoren: Ulrich Ritzel
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vertrat die Berliner Politologin Barbara Stein die Ansicht, die eigentliche Gefahr der in Afghanistan ganz selbstverständlichen Korruption bestehe in den Kickback-Provisionen, also darin, dass die Empfänger von Schmiergeld schon aus Gründen der Vertragssicherheit – und um das Gesicht zu wahren – Wert darauf legten, dass auch ihre Verhandlungspartner sich bereicherten. So sei Afghanistan unter den Augen der NATO zu einem Hauptexporteur nicht nur von Heroin, sondern auch von Regierungskriminalität geworden …
    Berndorf liest es, und trinkt – die Augenbrauen skeptisch hochgezogen – einen Schluck Tee. Als er die Tasse absetzt, klingelt es.
    Berndorf zögert. Der Hausmeister? Die Post kommt später. Er geht zur Tür und öffnet, vor ihm steht ein grauhaariger bärtiger Mann in einem ausgebeulten dunklen Anzug, es ist der türkische Änderungsschneider, der zwei Häuser weiter seine Werkstatt hat und der Berndorf erst vor Kurzem ein altes Tweedsakko aufgearbeitet und an den Ellbogen mit Lederflecken versehen hat. Aydin. Kemal Aydin.
    Berndorf bittet den Besucher herein und geleitet ihn am Wartezimmer vorbei in sein Büro. Der Besucher – eine Plastiktüte in der Hand – sieht sich kurz um, während Berndorf das Fenster schließt. Viel gibt es nicht zu sehen: an der einen Wand ein Bücherregal aus Fichtenholz mit einer Reihe Aktenordner, einem Stapel Fachzeitschriften und den gängigen, in rotes Plastik gebundenen Gesetzessammlungen, an der anderen Wand ein Rollschrank, der verschlossen ist und sich auch gar nicht öffnen ließe. Das gerahmte Foto, das schon wieder schief hängt. Der Besucher wartet, bis er aufgefordert wird, Platz zu nehmen, dann setzt er sich bedächtig auf den Besucherstuhl vor dem altmodischen Eichenholz-Schreibtisch, den Berndorf für einen Fünfziger aus einem Nachlass ersteigert hat. Auch Berndorf nimmt Platz, zieht einen Schreibblock aus der Seitenschublade und legt ihn mitsamt seinem Füller in Griffweite. Dann wendet er sich – beide Hände offen auf den Schreibtisch gelegt – seinem Besucher zu und sieht ihm ins Gesicht, das übernächtigt ist und in dessen dunklen Augen Zorn und Trauer liegen.
    »Ich hätte gern«, sagt Berndorf, »dass das ein guter Morgen ist. Aber ich weiß es nicht.«
    »Guter Morgen, schlechter Morgen … das liegt nicht in unserer Hand«, antwortet der Besucher. »Trotzdem. Mein Neffe …« Er spricht den Satz nicht zu Ende, sondern greift in seine Plastiktüte und holt ein großformatiges Foto hervor und reicht es Berndorf. Der nimmt es, das Portrait eines schwarzlockigen jungen Mannes mit feurigen Augen und einem weichen Gesicht, dem die sorgfältige Retusche auch nicht einen einzigen Pickel gelassen hat und das von einem schmalen, sorgfältig gestutzten Kinnbart eingerahmt ist. Berndorf dreht die Aufnahme um und sieht sich den Stempel des Fotografen an, es ist einer aus dem Viertel, er kennt das Atelier, es liegt zwei Straßen weiter.
    »Ein gut aussehender junger Mann«, sagt er.
    »Er ist tot«, kommt die Antwort. »Sie haben ihn umgebracht. Gestern Nacht …« Mit einer müden Geste hebt Kemal Aydin die Hand und zeigt zur Seite. »Mit dem Auto haben sie es getan. In der Straße da hinten …«
    Er legt die geballte, blau geäderte Faust auf den Tisch und stößt sie über die Platte, als sei etwas darauf geschrieben, das mit der bloßen Hand ausradiert werden müsste.
    »So haben sie es gemacht«, sagte er. »Als wäre er ein Hund. Und er ist gestorben, und niemand war bei ihm.«
    Berndorf hält noch immer das Foto in der Hand. Schließlich lässt er es sinken und blickt zu dem Besucher auf.
    »Haben Sie kein anderes Bild von ihm?«, hört er sich fragen. »Eines von denen, die der Fotograf nicht ins Schaufenster stellt?«
    N ichts passiert«, sagt Christian Fausser und steigt in die U-Bahn ein. Ein paar Stationen nur, dann wird er die millionenteure Parlaments-Metro nehmen, die man eigens durch den Schutt der Vergangenheit gegraben hat, und weil es nicht weit ist, will er eigentlich stehen bleiben, aber dann ist da doch ein freier Platz, und er setzt sich.
    Was hast du zu dem Jungen gesagt? Du hast doch noch alle Zeit der Welt … Woher willst du das wissen? Niemand hat alle Zeit der Welt. Die Menschen am allerwenigsten. Immer weniger Zeit haben sie, und bald gar keine mehr.
    »Unsinn!«, murmelt er tonlos, und holt aus der Seitentasche seines Koffers die Zeitung, die er am Kiosk gekauft hat, und schlägt sie auf – noch kein Foto von ausgebrannten
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