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Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf
Autoren: Ulrich Ritzel
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den Jungen: eher 14 als 15 Jahre alt, schmales Gesicht, Jeans und Anorak speckig, Turnschuhe, schon abgetreten, lange blonde Haare, schon länger nicht gewaschen, die rechte Hand in einem schmuddeligen, nicht mehr ganz festen Verband … Kaum halbwüchsig, ein Kind also, und wenn es ein Kind ist, warum ist es an diesem Montag, kurz vor zehn Uhr, nicht in der Schule? - Der Verband! Mit einer verbundenen rechten Hand kann man keine Hausaufgaben machen, natürlich nicht, und erst recht keine Klassenarbeiten schreiben …
    »Weiß ich nicht«, antwortet der Junge, und wieder klingt seine Stimme unvermittelt ganz abweisend, als sei ihm der musternde Blick des Mannes nicht entgangen. »War ja nicht dabei. Hab nur was gehört.« Dann dreht er sich um, schlüpft durch die Pforte des Friedhofparks und ist auch schon weg.
    A ndré sieht sich kurz um, aber der Mann ist ihm nicht gefolgt. Trotzdem ärgert er sich. Was hat er mit ihm zu reden gehabt? Niemand muss wissen, dass er hier wohnt. Niemand muss wissen, was er gesehen oder gehört hat. Es ist dumm von ihm gewesen, ganz einfach dumm … Dumm! Dumm! Dumm! Plötzlich beginnt er zu rennen, an den eingezäunten Gräbern und steinernen Kreuzen vorbei, hinüber zur Friedhofskapelle und der kleinen Pforte dahinter, hinaus auf die Straße und weiter bis zur Anlage vor der Schule, wo die Eltern Geld zahlen, damit ihre Kinder hinein dürfen, viel Geld sogar! Dann zwingt er sich, wieder zu gehen, so, wie er sonst auch geht, nicht zu schnell und nicht zu langsam, am Verband hat sich das lose Ende wieder gelöst, er wickelt es um das Handgelenk und zieht es fest. An der Buchhandlung mit den Comics im Schaufenster bleibt er nicht stehen – das hebt er sich für den Rückweg auf –, sondern wirft nur einen Blick aus den Augenwinkeln hinein, aber was er sieht, sind nur Sachen für die Kleinen.
    Am Kiosk vor der U-Bahn-Station hat ein Mann eine der Zeitungen mit den großen Schlagzeilen gekauft und ist noch vor dem Kiosk stehen geblieben, um zu lesen, vielleicht will er im Innern Fußballergebnisse gucken oder die Lottozahlen. André wirft einen Blick auf die Titelseite oder anders: die Titelseite zieht seinen Blick an, er kann gar nicht anders als hinsehen, der Kopf einer Frau ist dort abgebildet, für einen Augenblick pocht ihm das Herz bis zum Hals, dann sieht er, dass es nicht jenes eine Foto ist, vor dem er Angst hat, die ganze Zeit schon …
    Er steigt die Treppe zur U-Bahn hinunter. Wie immer stinkt es dort nach Pisse, und vorsichtig macht er einen Bogen um eine Lache Erbrochenes. Vor dem Fahrkartenautomat verlangsamt er seinen Schritt und greift tastend in den Ausgabeschacht, aber niemand hat das Wechselgeld vergessen. Auf der Plakatwand gegenüber dem Bahnsteig räkelt sich eine Blonde in ihrem Bikini am Strand vor einem Meer, das blau und grün schimmert, und über dem Strand sind Berge, schneebedeckt: Dalmatien soll das sein … Er ist einmal dort gewesen, noch bevor er in die Schule gekommen ist, im Restaurant hat es immer Fisch gegeben oder Hackfleisch, und später ist er in einen Seeigel getreten. Die Blonde auf dem Plakat hat eine ganz und gar braune Haut und keinen Sonnenbrand wie die Elke damals, und auch keine Spur vom hellen Sand auf den Oberschenkeln oder an den Knien, obwohl sie doch mitten am Strand hockt, das eine Bein ausgestreckt und das andere angewinkelt …
    Weiter vorn auf einer Bank sitzt eine alte Frau, ihre Handtasche vor sich wie ein Schoßtier, und weiter hinten stehen zwei oder drei Männer, vielleicht Polen oder Russen, hoffentlich hat keiner gesehen, wie er das Plakat mit der Blonden angestarrt hat. Die U-Bahn kommt, die Wagen sind fast leer, er steigt ein und bleibt an der Wagentüre stehen. Als der Zug Fahrt aufnimmt und in den dunklen Tunnel eintaucht, sieht er sein Spiegelbild im Fenster der Türe gegenüber, rasch wendet er den Blick ab. Einmal hat er einen Comic gesehen über einen Jungen im Krieg, die Stadt brannte, und die Menschen flohen in die Tunnels der U-Bahn, aber dann wurden die Tunnels geflutet, und nur der Junge kannte den richtigen Weg hinaus …
    Die Alte hat sich auf einem Sitzplatz am Fenster niedergelassen, noch immer die Tasche auf dem Schoß, die Tasche ist prall von weiß der Teufel was für einem Zeug, vorne ist eine Seitentasche, auch sie ist ausgebeult, da muss das Portemonnaie drin sein, ein dickes vollgestopftes Portemonnaie, ganz bestimmt, aber da ist nur im dichten Gedränge etwas zu machen, und auch dann hätte er
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