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Für hier oder zum Mitnehmen?

Für hier oder zum Mitnehmen?

Titel: Für hier oder zum Mitnehmen?
Autoren: Ansgar Oberholz
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PROLOG
    Z um Schutz an eine Hauswand gelehnt, stehe ich am Rosenthaler Platz. Bis hierhin kommt der Gewitterregen nicht. Ich warte auf die Elektrische. Digitale Anzeigetafeln gibt es noch nicht. Der Zahnarzt sagte, ich solle nüchtern zur Wurzelresektion kommen. Jemand rempelt mich an. Der versucht möglichst nah an der Hauswand entlangzugehen, um dem Regen zu entkommen, das alte Haus schützt. Trotzdem hätte er mich sehen müssen. Ich kann mich nicht erinnern, an einem frühen Novembermorgen schon einmal ein Gewitter erlebt zu haben.
    Bis vor ein paar Stunden habe ich gefeiert. Meinen Ausstieg aus meiner Werbeagentur. Nach dem Notartermin bin ich mit Freunden essen gegangen und habe den Verkaufspreis meines Anteiles verjubelt. Ein Euro als symbolischer Wert müsse mindestens übertragen werden, sagte der Notar. Meine Geschäftspartnerin war so nett und gab ihn mir gleich in bar. Keine gute Zeit für Werbeagenturanteilsverkäufe. Das Platzen der Dotcom-Blase hallt noch immer nach.
    Direkt gegenüber ist bis vor kurzem ein Beate-Uhse-Sexshop gewesen, das Eckgebäude war baufällig und musste abgerissen werden. Beate Uhse zog ein Haus weiter in die Brunnenstraße, Richtung Wedding. Auf der neu entstandenen Brache, einem dreieckigen Grundstück in bester Lage, befinden sich nun mehrere Buden. Durch den Abriss wurde eine Brandwand offengelegt, sie ist unverputzt. Der Umriss des nicht mehr vorhandenen Hauses ist darauf gut zu erkennen. In der Mitte der Wand sind frisch zugemauerte Durchbrüche, die neuen weißen Steine ergeben zwei ausladende weiße Flächen. Die untere ziert ein riesengroßes Graffiti in schwarzer Schrift: » KEGR «. Nicht gesprüht, sondern gerollt. Zwischen dem E und dem G ist ein Zeilenumbruch eingefügt, so dass die Typografie auf die exakt quadratische Grundfläche passt. Die Signatur des Street-Art-Künstlers beherrscht die Brandwand und die Brandwand den Rosenthaler Platz.
    Bei den Buden unterhalb findet man fast alles, einmal quer durch die internationale Küche. Zwei Dönerbuden, ein Asia-Imbiss, ein Grieche, eine Art Backshop und ein Blumenhändler. Fast schon ein kleines Einkaufscenter.
    Das Gewitter ist nun genau über mir, Blitz und Donner folgen beinahe gleichzeitig aufeinander. Ich drehe mich um. Was ist das überhaupt für ein Gebäude, an dem ich stehe? Ein Eckhaus mit einer großen Gewerbefläche im Erdgeschoss, die offensichtlich nicht genutzt wird. Es scheint nur als Unterstand zu dienen. Als ich vor fünfzehn Jahren aus der Senke meiner westdeutschen Kleinstadt nach Berlin kam, befand sich dort ein Burger King. Wenn selbst die einen Ort verlassen!
    Wie kann es sein, dass eine gastronomische Einrichtung in dieser Lage ohne Betreiber ist? Ein lang anhaltender Blitz erleuchtet den Platz. Ich trete von der Hauswand weg in den Regen, als würde ich in einen See springen. Ich spüre die Nässe aber gar nicht. Der nächste Blitz zeigt mir, das Haus steht tatsächlich leer. Ein altes Signet scheint unter der Farbe verborgen.
    Der Zahnarzt meinte hoffentlich Nüchternheit in Bezug auf Nahrung, sicherlich habe ich noch Restalkohol im Blut. Nach dem Essen konnten wir die Stopptaste nicht finden und landeten erst im Bad Kleinen im ehemaligen Auslandspostamt der DDR in der Krausenstraße und dann auf einer illegalen Party, an die ich mich nur schemenhaft erinnere. Irgendwo nördlich der Charité, der Eingang war einfach ein Loch im Rasen, ein verlassener Keller, das weiß ich noch. Die anderen Schemen, die ich sehe, will ich lieber schnell wieder vergessen.
    Ich starre auf die Stelle, an der ich das alte Signet vermute, und warte die nächste Ausleuchtung ab, um herauszufinden, ob ich es mir nur eingebildet habe. Ich muss nicht lange warten, eine Blitzsalve bietet beste Lichtverhältnisse.
    ASCHINGER steht dort in alter Schriftart, ASCHINGER 9te BIERQUELLE . In diesem Moment fällt mir alles ein: Franz Biberkopf, Berlin Alexanderplatz , Rosenthaler Platz, Aschinger, Döblin, alles, was meine Deutschlehrerin mir vor Jahren mühevoll eingetrichtert hat. Genau an diesem Ort befinde ich mich!
    Das Haus ruft mich. Ich setze noch einen Schritt zurück, um es besser sehen zu können. Ein alter Lastkraftwagen – »Schulze – Abrissarbeiten und Schuttbeseitigung« – fährt vorbei, und eine große Welle Wasser schwappt über den Bordstein und über meine Beine. Auch das sehe ich mehr, als dass ich die Nässe fühle.
    Meine Tram naht, ich trete schnell an das Haus heran und umarme einen Mauervorsprung
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