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Für hier oder zum Mitnehmen?

Für hier oder zum Mitnehmen?

Titel: Für hier oder zum Mitnehmen?
Autoren: Ansgar Oberholz
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anknüpfen? Wie ließe sich diese prominente, gut sichtbare Fassade nutzen, damit die Menschen magisch angezogen würden – wie vor über hundert Jahren vom bayrischen Rautenmuster? Wie könnte ich Franz Biberkopf überzeugen, den Platz zu überqueren, um beim Bier in meiner Kneipe auf Mieze zu warten?
    Vor einem vorbeiziehenden Passanten auf die Knie gehen, ihn anbetteln, er möge doch auf einen Kaffee eintreten, gerne auch auf Kosten des Hauses, schießt mir durch den Kopf. Den Passanten niederschlagen, hineinschleifen, am Tresen anbinden und mit einer Magensonde die gesamte Speisekarte konsumieren lassen, diesmal nicht auf Kosten des Hauses, wäre eine andere Idee.
    »Ick sehe, die Lüftungsfirma hat endlich die Überdachung uff den Abluftkanal uff dem Dach installiert. Da hatten wa echt Glück, bis jetz keen nennenswerten Rejen jehabt.«
    Die letzte Rechnung der Lüftungsfirma ist noch nicht beglichen worden. Nichts senkt die Arbeitsgeschwindigkeit von Handwerkern so sehr wie offene Rechnungen.
    »Und wenn du ein wenig weiter unten schaust, ungefähr Erdgeschoss und erstes Stockwerk?«
    Klamotte sieht mich traurig an.
    »Ich frage mich, warum keiner von all diesen Menschen hier hineingeht. Der Platz ist voll wie ein Ei!«
    »Na ja, ick sehe irjendwie dit x-te Berlin-Mitte-Café. An der Lage kann dit ja wohl nich liegen! Früher ham wa hier halbe Broiler jehabt. Die ham se ausm Küchenfenster raus vakooft. Aber dit wird dir nu ooch nich weitahelfen. Du bist doch hier der Wessi, du musst doch wissen, wat zu tun is. Schmück die Braut. Mach wat Wessimäßijet!« Er schiebt sich die Mütze zurecht, kratzt sich an der Stirn und nutzt die Grünphase der Fußgängerampel, um zu seinem Paketwagen zurückzukehren.
    Dort, wo sich das bayerische Rautenmuster befunden hatte, hängen nun schwarze Tafeln. Auf denen steht »Kaffee – auch zum Mitnehmen, Sandwiches, Suppen, Kuchen«, mit bunter Kreide handgeschrieben. Das sieht mehr nach Bioladen als nach Café der Boheme der zwanziger Jahre aus. Tausende Menschen sehen diese Tafeln tagtäglich und werden nicht davon angezogen. Hier muss ein Bruch her, etwas Ungewöhnliches! Etwas, das Döblin im Alexanderplatz erwähnt hätte, so wie er die ewigen Baustellen am Platz erwähnte, die bis heute dem ungeschriebenen Gesetz folgen: Eine Baustelle pro Jahr ist Pflicht am Rosenthaler. Die normalen Gastroinformationen müssen runter von den Tafeln, und etwas Neues muss rauf. Etwas, das selbst in Berlin-Mitte für Aufsehen sorgt. Franz Biberkopf ist hier mehrmals untergegangen, und Burger King hat es nicht geschafft. Diesen Fluch werde ich auflösen. Ich fühle mich dem Erbe des Hauses verpflichtet, als schuldete ich ihm etwas, als schuldete ich dem Rosenthaler Platz etwas. Wie eine Schuld aus einem alten Leben.
    Ich will mich in mein Büro in der Lüftungskammer zurückziehen und brainstormen, als ich einen Fuchs sehe, der in aller Seelenruhe den Rosenthaler Platz im dichtesten Verkehr überquert und dabei selbstverloren mit dem Kopf nickt. Vorbeirasende Autos lassen ihn ab und zu aus meinem Blickfeld verschwinden. Jedes Mal habe ich Angst, dass er überfahren werden könnte. Aber ein heiliger Schutz scheint ihn wie selbstverständlich zu behüten.
    Im Café ist die Musik viel zu laut, vor allem im Verhältnis zur Gästezahl. Ein Gast vorne am Tresen wartet darauf, bedient zu werden. Milena steht am anderen Ende und unterhält sich angeregt mit Shanti. Dabei poliert sie Gläser, was aber gar nicht nötig wäre, da die Gläser ungenutzt und bereits poliert sind. Dass Shanti und Milena sich unterhalten, ist für mich eine kleine Erlösung, da die ersten Tage ihrer Zusammenarbeit von gewissen Spannungen geprägt waren. Sie trugen keine offenen Streitigkeiten aus, man spürte eine nicht greifbare Antipathie. Zu unterschiedlich sind ihre Charakter, Feuer und Wasser. Ich bin aber überzeugt, dass sie sich als Gegensätze um die gleiche Mitte drehen, ich dies nur geschickt moderieren muss. Den zarten Keim der Teambildung will ich deshalb nicht ersticken, und ein wenig Erfahrung am Gast zu sammeln ist sicherlich nicht das Schlechteste für mich. Geschwind springe ich selbst hinter den Tresen und drehe die Musik leiser.
    »Womit darf ich dienen?«, rufe ich freudig, dabei falte ich die Hände vor der Brust und erwarte lächelnd die Bestellung. Der Gast trägt einen billigen grauen Anzug und hält eine schwarze Ledermappe in der Hand. Lange und ausführlich betrachtet er die Speisekarte, die in
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