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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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ein Doppelkinn, hielt sich jedoch
stolz und anmutig gerade, als sie zu ihnen trat.
    Aus Magazinen wie
der Berliner
Illustrierten kannte Kraus die Nudistenbewegung.
Von braven Mittelklasse-Bürgern bis zu sozialistischen
Gesundheitsfanatikern schienen alle dem Kult des nackten
Körpers verfallen zu sein. Heilgymnastik, Wassertherapie,
Darmspülungen, Sonnenanbetung, Sauermilchdiäten,
Elektroschocktherapien … all das sollte einen erhöhten
Zustand der Ruhe, Gesundheit und Schönheit erzeugen, die neue
Bewusstheit, dass der nackte Körper Perfektion ausstrahlte.
Kraus schien es, als würde die gesamte deutsche Nation
verzweifelt versuchen, sich ihrer Vergangenheit zu entledigen und
praktisch bei null zu beginnen. Und was auch immer die Deutschen
waren oder nicht waren, was sie machten, machten sie
gründlich.
    Auch wenn ihr Auftritt
dramatisch gewesen sein mochte, Informationen, die noch nicht im
Polizeibericht vermerkt waren, hatte Frau Geschlecht nicht zu
bieten. Sie hatte im Solarium im zweiten Stock eine bestimmte
Jogastellung eingenommen, berichtete sie ebenso ungerührt von
ihrer Nacktheit wie Adam und Eva, als sie durch das Fenster etwas
bemerkte, das ebenfalls wie ein nackter Körper aussah. Zuerst
hatte sie angenommen, jemand aus dem Institut nehme ein Morgenbad
im Fluss. Aber je länger sie in der Position verharrt sei,
desto klarer sei ihr geworden, dass sich der Körper nicht
bewege. Nachdem sie die Spandauer Polizei angerufen habe, seien
Schmidt und die anderen aufgetaucht und sie habe ihnen die Stelle
am Flussufer gezeigt, das sei alles gewesen.
    »Sie waren sehr
hilfreich.« Kraus lächelte und steckte sein Notizbuch
ein.
    »Bitte, kommen
Sie doch wieder.« Sie hielt ihm die Hand zum Kuss hin.
»Wir halten jeden Mittwoch und Sonntag um sieben
Einführungskurse ab.«
    Er zog sich aus dem
Paradies der Nackten zurück und musste die unansehnlichen
Bilder aus seinem Kopf vertreiben.
    Die Sonne hatte sich
durch die Morgenwolken gekämpft. Der hohe, runde Turm der
Zitadelle erhob sich über die mittelalterliche Stadt. Rechts
konnte er den S-Bahnhof sehen, gegenüber lag ein Café
mit einem Biergarten. Er überlegte, ob er sich dort ein wenig
umhören sollte, doch dann bemerkte er die rote Fahne mit dem
weißen Kreis über der Tür, in dem das schwarze
Hakenkreuz prangte. Angeblich hatte Hitler das Banner selbst
entworfen. Kraus fiel wieder ein, dass Spandau eine Hochburg der
Nazis war.
    Also ging er zum
Fluss. Ein langes, weißes Ausflugsboot kämpfte
mühsam gegen die reißenden, grauen Fluten an.
Plötzlich hatte er eine Erleuchtung. Natürlich! Die
Meerjungfrau war genau in die entgegengesetzte Richtung geschwommen
wie das Boot. Er lief rasch die wenigen Stufen zur Pier herunter
und fragte dort nach, wann das nächste Boot abfuhr.
    »Wohin wollen
Sie denn, mein Herr? Wir haben zwei Boote«, erwiderte der
Mann nicht besonders freundlich. »Hier steht es.« Er
deutete auf ein Schild. »Die nördliche Route oder die
südliche. Zum Wannsee oder zum Schloß Oranienburg. Beide
Fahren kosten zehn Mark.«
    Kraus warf einen Blick
auf die Uhr. Oranienburg, am Mittag. Aber bevor er drei Stunden auf
einer Bootsfahrt ermittelte, musste er sich noch im Büro
melden.
    Neben dem
Zeitungskiosk stand eine gelbe Telefonzelle.
    »Kommissar
Horthstaler sagt, Sie sollen ihn sofort anrufen. Es sei
dringend.«
    »Dringend. Na
gut. Dann seien Sie doch so gut und verbinden Sie mich mit dem
Kommissar, meine Liebe.«
    Durch die offene
Tür der Telefonzelle fiel Kraus’ Blick auf die
Schlagzeilen der Morgenzeitung. Die Regierung zerbricht! Von
Papen zum Rücktritt gezwungen!
    »Kommissar
Horthstaler, hier spricht Kraus.«
    »Kraus, melden
Sie sich unverzüglich im
Präsidentenpalais.«
    »Jawohl, Herr
Kommissar.« Kraus war erstaunt. »Darf ich fragen,
warum?«
    »Der Alte will
Sie sprechen.«
    »Mich?«
    »Hindenburgs
Büro war ausgesprochen hartnäckig. Sie sollen sich sofort
dort melden.«
    »Jawohl. Aber
… warum sollte der Präsident mich sprechen
wollen?«    
    »Woher zum
Teufel soll ich das wissen? Vielleicht will er Sie zum
Reichskanzler ernennen!«
    Hätte Kraus nicht
gerade die Schlagzeilen gelesen, hätte er die Bemerkung
vielleicht amüsant gefunden.

DREI
    General Paul von
Hindenburg, von fast allen »Der Alte« genannt, war
nicht nur der Reichspräsident, sondern auch der symbolische
Vater des Landes. Mit seinen eins neunzig, seinen
hundertfünfundzwanzig Kilo, der mächtigen
tonnenförmigen Brust und dem
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