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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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ein ansteckendes Lächeln,
und er war Kraus geradewegs aus den oberen Etagen der
Polizeiakademie in Charlottenburg vor die Füße gefallen.
Als Landei aus dem Norden war Berlin für ihn wie ein
Märchen. Sicher, er trat häufiger ins Fettnäpfchen,
was bei Schuhgröße 47 gar nicht so einfach war. Aber er
war klug und effizient und verehrte Kraus aus tiefstem Herzen. Die
beiden kamen großartig miteinander aus. Kraus hatte
vorgehabt, den Jungen mit nach Spandau zu nehmen, aber der
Autopsiebericht warf diesen Plan über den
Haufen.     
    »Gunther
…«
    »Ja! Guten
Morgen, Chef!«
    »Was den
gestrigen Fall angeht … ich brauche da ein paar
Informationen.«
    »Jawohl!«
Gunther lächelte und zückte sofort sein
Notizbuch.
    »Ich brauche die
Namen sämtlicher hervorragender orthopädischer Chirurgen
in Deutschland, vor allem aus der Gegend von
Berlin.«
    »Orthopädische
Chirurgen. Hab ich.«
    »Die Namen
sämtlicher im letzten Jahr in Berlin vermisst gemeldeter
amerikanischer und kanadischer Frauen.«
    »Klar.«
    »Ich
möchte, dass Sie sich bei jeder preußischen
Nervenheilanstalt erkundigen, ob eine weibliche Patientin zwischen
dreiundzwanzig und sechsundzwanzig Jahren im letzten Jahr
verschwunden ist. Und finden Sie heraus, welche dieser Kliniken
ihren Patienten die Köpfe kahl schert.«
    »Kahle
Köpfe, geht klar. Was noch, Chef?«
    »Sie müssen
alles über Knochentransplantationen ausgraben, was Sie finden
können. Kontrollieren Sie, welche Ärzte etwas
darüber geschrieben haben, wer Vorlesungen darüber
gehalten hat oder was auch immer.«
    »Knochentransplantationen.
Ja, Chef. Was noch?«
    »Das ist alles.
Nein, warten Sie. Gehen Sie in Hoffnungs Büro und sagen Sie
ihm, dass Sie sich das Mädchen ansehen sollen, auf meinen
Wunsch hin.«
    »Zu Hoffnung
gehen, Mädchen ansehen.« Gunther kritzelte eifrig in
seinen Block.
    »Sehen Sie sich
das Mädchen genau an, Junge. Und hören Sie sich an, was
der Rechtsmediziner Ihnen sagt. Und dann, Gunther, dann fragen Sie
sich, was das für eine Welt ist, in der wir hier
leben.«
    Kraus fuhr allein mit
einem zivilen Polizeiwagen zu der Stelle, wo die Meerjungfrau
aufgetaucht war. Der erste Halt war Kronebergstraße 17. Das
Institut für Modernes Leben. Er trat durch ein mittelalterlich
anmutendes, schmiedeeisernes Tor und näherte sich dem
großen, weißen, mit Stuck verzierten Haus. Er
drückte die Türklingel. Nach einer Weile näherten
sich langsame, schwere Schritte. Als die dunkle Eichentür
schließlich aufschwang, war Kraus froh, dass er Gunther nicht
mitgenommen hatte.
    Vor ihm stand eine
nackte Frau von mindestens siebzig, von Kopf bis Fuß braun
gebrannt und mit hängenden Brüsten.
    »Guten
Morgen«, sagte sie und sah ihn fragend an. »Was kann
ich für Sie tun?«
    »Ich …
ich würde gern mit Frau Geschlecht sprechen, wenn das
möglich ist.«
    »Frau Geschlecht
hält gerade ihre Gymnastikstunde ab. Vor halb zehn ist sie
nicht fertig. Kann ich Ihnen vielleicht helfen? Ich bin
Fräulein Meyer.«
    »Ja. Guten Tag,
Fräulein.«
    »Sie dürfen
natürlich hereinkommen. Hier sind alle willkommen, ungeachtet
ihrer Rasse, ihres Einkommens, ihres Alters oder ihres
körperlichen Zustands.«
    »Wie
schön.«
    »Aber dann
müssen Sie Ihre Garderobe ablegen. Voyeure, die sich weigern,
abzulegen, sind nicht zugelassen.« Sie
lächelte.
    Kraus hörte ein
merkwürdiges Trommeln aus dem Inneren des Hauses.
    »Ich bin nicht
hier, um zu glotzen, Fräulein, das versichere ich
Ihnen.«
    Er zeigte ihr seine
Kripomarke.
    Auf ihrem Gesicht
zeigte sich die angemessene Beunruhigung. »Ach, du meine
Güte. Ja, dann müssen Sie natürlich hereinkommen.
Frau Geschle-hecht!«, sang sie in eine geöffnete
Tür.
    Kraus folgte ihr
unaufgefordert und blieb wie erstarrt stehen bei dem Anblick, der
sich ihm bot.
    In dem großen,
vollkommen leeren Raum mit einem Holzboden tanzten etwa zwölf
zumeist ältere Frauen vollkommen nackt. Sie hatten ihr Haar zu
»Gretchen«-Zöpfen geflochten und warfen Arme und
Beine um sich wie Nymphen an einer verzauberten Quelle. Ein nackter
Mann, der mindestens neunzig Jahre alt sein musste, schlug den
Rhythmus auf einer Trommel.
    »Schönheit!
Gesundheit! Bewegung!«, sangen sie.
    »Frau
Geschlecht!« Fräulein Meyers schrille Stimme
übertönte alles. »Hier ist ein Kriminalpolizist,
der Sie sehen will, um Himmels willen! Ein
Kriminalinspektor.«
    Das Trommeln erstarb.
Die Tänzer drehten sich gleichzeitig zur Tür herum. Eine
der Frauen trat vor. Sie hatte
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