Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
riesigen Walrossschnauzbart hatte
diese wahrhaftig gigantische, mittlerweile fünfundachtzig
Jahre zählende Persönlichkeit das kaiserliche Deutschland
zu seinen größten Siegen im Weltkrieg geführt. Er
hatte in den dunklen Jahren nach dem Krieg als Wächter der
nationalen Einheit fungiert, während der Roten Revolution, dem
Kapp-Putsch, dem Hitler-Putsch, der Inflation und dem
mörderischen Kampf zwischen der extremen Linken und der
extremen Rechten. Kraus konnte sich absolut keinen Grund
vorstellen, warum dieser Mann ausgerechnet ihn zu sehen
wünschte.
    Als Kraus darauf
wartete, in das Büro des Alten auf der Wilhelmstraße
gerufen zu werden, toste ein widerstreitender Sturm von
Gefühlen in seiner Brust. Einerseits musste man einfach einen
Mann respektieren, der Deutschland zusammenhalten konnte. Auf der
anderen Seite hatte Hindenburg im November 1918 die vollkommen
falsche Idee vom »Dolchstoß in den Rücken«
propagiert, die diese ungeheure Verbitterung genährt hatte.
Laut dieser Legende war die deutsche Armee im Krieg nicht besiegt,
sondern 1918 wegen der kommunistischen Revolution in der Heimat zum
Rückzug gezwungen worden. Das deutsche Volk hatte als Opfer
strikter Zensur tatsächlich keine Ahnung gehabt, dass
Deutschland den Krieg verloren hatte. Die Leute glaubten, dass mit
den Alliierten eine Vereinbarung über einen Waffenstillstand
getroffen worden wäre. Erst als die Bedingungen dieses
Waffenstillstands bekannt wurden, fanden sie heraus, dass sie nicht
nur verloren hatten, sondern dass sie auch die Schuld am Ausbruch
dieses Krieges trugen. Folglich mussten sie ihren Feinden den
Schaden ersetzen, den sie ihnen zugefügt hatten.
    Von daher waren die
Menschen für die Dolchstoßlegende durchaus
offen.
    Aber Kraus war dabei
gewesen, bei den Voraustruppen der großen
Frühlingsoffensive von 1918, als eine Million deutsche
Soldaten ihre Schützengräben verlassen und einen
Sturmangriff gestartet hatten. Er war dort im Herzen Frankreichs
gewesen, weiter, als sie jemals zuvor gekommen waren, nur wenige
Kilometer vor Paris, als deutlich wurde, dass die Armee sich
übernommen hatte. Sie hatten ihre Nachschubverbindungen zu
weit hinter sich gelassen. Der Angriff war verpufft. Und damit
hatten sie sich anfällig gemacht für einen Gegenangriff.
Genau das war dann auch passiert. Eine Dreiviertelmillion
amerikanischer Soldaten war zu den britischen und
französischen Truppen gestoßen, und die erschöpften
Deutschen hatten ihnen keinen Widerstand leisten können. Es
war eine Lüge, zu behaupten, dass die deutsche Armee keine
Schlacht im Krieg verloren hatte. Die deutsche Armee war
stattdessen in diesem Herbst 1918 in Frankreich vernichtend
geschlagen worden. Kraus hatte es
miterlebt.     
    Er sprang wie eine
Marionette hoch, als sein Name gerufen wurde. Der Präsident
würde ihn jetzt empfangen. Von Hindenburg saß hinter
einem mit goldenen Schnitzereien verzierten Schreibtisch von der
Größe eines Billardtisches und hatte den Kopf gesenkt.
Kraus zögerte, sich bemerkbar zu machen, vor allem, als er
registrierte, dass der Reichspräsident schlief. Er schnarchte.
Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, knallte Kraus so laut
er konnte die Hacken zusammen, räusperte sich und sagte:
»Herr Präsident!«
    Glücklicherweise
öffnete der Alte die Augen.
    »Kriminalinspektor Kraus,
mit Verlaub.«
    »Ja, ja,
Kraus.« Der Präsident strich mit der Hand über
seinen mächtigen Schnauzbart und warf einen Blick über
die Schulter, als wartete er auf ein Wort seines Ratgebers.
»Also, weshalb wollte ich Sie sprechen? Ach, ja! König
Boris! Was für eine Schweinerei.« Der Alte faltete die
Hände über seinem gewaltigen Bauch. »Die Tochter
des Königs von Bulgarien ist verschwunden, Kraus. Ausgerechnet
aus dem Adlon! Sie müssen sie sofort suchen.«
    »Aber, Euer
Exzellenz, darf ich Sie daran erinnern, dass ich in der
Mordkommission diene. Wir haben eine ausgezeichnete Abteilung
für vermisste Personen, in denen viele Experten für
…«
    »Quatsch!«
Der Alte kniff die blauen Augen zusammen. »Diese Idioten
würden nicht mal einen Elefanten am Pariser Platz finden.
Nein, wir brauchen Sie, Kraus. Sie! Unseren berühmtesten
Inspektor. König Boris ist ein Freund von mir. Ein Freund von
Deutschland. Und Deutschland schätzt die Beziehung mit
Bulgarien sehr, weil es von dort sehr viele seltene Rohstoffe
bezieht, die es dringend benötigt. Habe ich mich deutlich
ausgedrückt? Ich möchte König Boris
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher