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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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Gedanken
über sein Judentum, außer an den hohen Feiertagen. Aber
seine dunklen Augen und sein lockiges, schwarzes Haar
verkündeten es ebenso klar wie eine Neonreklame auf dem
Ku’damm. Die Deutschen wurden zunehmend kühner in ihren
antisemitischen Ausbrüchen. Wenn das so weiterging,
würden sie die Juden bald wieder zwingen, ihre gelben
Narrenkappen aufzusetzen, wie in den dunklen Zeiten. Dieser
Verrückte vor ihm brauchte jetzt nur noch zu behaupten, er
hätte versucht, ihm seine Brieftasche zu stehlen, dann
würde er richtig in der Klemme stecken. Kraus zückte
jedoch seine Kripomarke. Die Veränderung in der Miene des
Mannes wog die Beleidigung fast auf.
    »Oh,
entschuldigen Sie, Herr Kriminalinspektor.« Der Mann zog
seine Melone und hielt sie mit zitternden Händen vor sich.
»Ich hatte keine Ahnung, mit wem ich es zu tun habe. Ich
meine, ich habe es nicht so gemeint. Verzeihen Sie mir bitte meine
Dummheit. Wir alle kennen schließlich den großen
Inspektor Kraus, den     
    Kinderschänder -Fänger!«
    Wie typisch deutsch es
war, die Schwachen zu quälen und vor den Mächtigeren zu
buckeln.
    Kraus starrte den Mann
so lange an, bis es ihm so unbehaglich wurde, dass er seine Melone
aufsetzte und aus der Straßenbahn floh.
    Der Berliner
Sportpalast war die größte geschlossene Arena der Stadt.
Dort wurden Boxkämpfe ausgetragen, große politische
Veranstaltungen abgehalten und das ungeheuer populäre
Sechs-Tage-Radrennen veranstaltet. Dieser grausame Wettbewerb wurde
1920 zum ersten Mal ausgetragen. Dabei wurden Mannschaften von
Radrennfahrern in ein hochdotiertes Rennen geschickt, das sechs
Tage lang rund um die Uhr lief. Nur ein Fahrer jeder Mannschaft
musste auf der Bahn sein, so dass der zweite essen oder schlafen
konnte.
    Kraus ließ am
Haupteingang seine Dienstmarke aufblitzen und wurde eingelassen.
Eine Woge von Feuchtigkeit schlug ihm entgegen. Helle, weiße
Flutlichter zeigten ihm im Inneren den Weg. Der ganze Platz
vibrierte wie bei einem Erdbeben, die Luft schien von dem Geschrei
von Tausenden zu explodieren, und die Tribünen dröhnten
unter dem Trampeln der Füße. Ein Dutzend Rennfahrer
raste gebeugt dahin. Sie traten wie verrückt in die Pedale und
flogen durch das Oval. Jeder versuchte, an die Spitze zu fahren,
einen Zentimeter weiter nach vorn zu kommen, und sie fegten in
einem Nebel aus Farben an ihm vorbei. »Herum und herum und
herum fahren sie!«, blökte es aus den Lautsprechern.
»Wie lange können sie es noch durchhalten, meine Damen
und Herren? Wie lange noch?«
    Kraus fand heraus,
dass Konstantin Kaparov, die Nummer 8, gerade im Rennen war. Zum
Glück war seine Etappe jedoch gleich beendet, und Kaparov
würde hereinkommen, damit sein Teamgefährte
übernahm. Kraus hatte genau den richtigen Zeitpunkt
erwischt.
    Ein Glückstag,
dachte er.
    Bis er Kaparov sah,
der nach sechs Stunden Rennen von der Bahn torkelte.
    Der arme Kerl
verdrehte die Augen. Mitglieder seines Teams wickelten ein Handtuch
um ihn und führten ihn in den Ruhebereich. Der Mann sah aus,
als ringe er mit dem Tod. Kraus gab ihm ein paar Minuten, damit er
einigermaßen zu sich kam, bevor er ihm seine Dienstmarke
zeigte. Kaparov nickte, leerte ein Glas Saft und schien dann seine
letzten Kräfte zu sammeln. »Gott sei Dank, dass Sie hier
sind.«
    Unterbrochen von
Anfällen von Benommenheit und Krämpfen, erzählte er
Kraus seine Geschichte.
    Sie waren vor zwei
Tagen aus Sofia mit dem Zug in Berlin angekommen. Sie waren noch
nie zuvor in Berlin gewesen. »Magdelena ist wegen des
Radrennens mitgekommen.« Er sprach Deutsch mit einem starken
Akzent. »Ich habe zwei Jahre dafür
trainiert.«
    Nachdem sie im Adlon
abgestiegen waren, hatten sie nichts weiter unternommen, bis auf
ein Abendessen in einem Nachtclub. Wo? Er konnte sich an den Namen
nicht erinnern, weil er zu müde war, um sich zu konzentrieren.
Irgendwo auf der Friedrichstraße. Wie sie es gefunden hatten?
Keine Ahnung. Magdelena hatte wohl davon gehört. Nein,
natürlich hatte niemand gewusst, dass sie eine Prinzessin war.
Sie machten Reservierungen immer unter seinem Namen. Tanzen? Nein.
Magdelena hatte an diesem Abend nicht tanzen können. Sie hatte
sich zuvor im Zug den Knöchel verstaucht, und das machte ihr
noch zu schaffen. Etwas Ungewöhnliches? Nein, nichts
Ungewöhnliches, jedenfalls nichts, woran er sich hätte
erinnern können. Nach dem Abendessen? Sie hatte sich
vollkommen normal benommen. Sie waren direkt zum Hotel
zurückgefahren. Mit dem Taxi. Er
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