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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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Krieg
ausbrach, von den Franzosen interniert wurde, weil er Deutscher
war, und wieder 1940 von den Invasionstruppen der Deutschen, weil
er Jude war. 1942 bekam er den gelben Stern angeheftet und wurde
nach Osten »umgesiedelt«, mit Frau und Kindern, in
dieses unaussprechliche Reich, über das der Todesengel
herrschte – Josef Mengele.
    Der wahnsinnige Arzt
von Auschwitz.
    Das Lager
Sachsenhausen war, wie Mengele versprochen hatte, tatsächlich
wiederaufgebaut worden, etwas weiter nördlich an der Havel,
größer und besser als zuvor. Fast hunderttausend
Menschen wurden dort ermordet, während die Nachbarn sich
Augen, Münder und Nasen zuhielten.
    Von Ruta fuhr er mit
dem Taxi in die Tiergartenstraße und wollte versuchen, Sylvie
aufzuspüren. Ihre kleine Villa war dem Erdboden gleichgemacht.
Dort gab es auch keine Kreidenachricht mit einer neuen Adresse. Er
fuhr zum Adlon, um Hans zu finden. Der Chef-Concierge war bei einem
Luftangriff verschollen. Das Hotel war zerstört.
    Ebenso wie der
Kaiserhof. Der Fürstenhof. Der Palast. Das
Excelsior.
    Ernst Röhm und
sein gesamter SA-Führungsstab waren 1934 in jener
berüchtigten »Nacht der langen Messer«
ausgelöscht worden, zusammen mit Kurt von Schleicher und
seiner Gattin. Kai, das fand Kraus nach einiger Detektivarbeit
heraus, war in Buchenwald ermordet worden, zusammen mit dem Rest
der »Roten Apachen«. Gunther war in der letzten
Kriegswoche als Deserteur erschossen worden.
    Der Potsdamer Platz,
einst das wild pulsierende, wirtschaftliche Herz der Stadt, war
ebenfalls vollkommen zerstört worden. Das nackte Gerippe von
Kempinskis Haus
Vaterland ,
einst der »fröhlichste Platz von Berlin«,
über dem ein Riesenrad aus Neonlichtern getanzt hatte, war
jetzt ein Netz aus verbogenen Stützpfeilern, die nichts mehr
stützten und ins Leere hinaufstarrten: Es war ein Zeichen, das
die Trennungslinie zwischen dem britischen und russischen Sektor
markierte.
    Im Regierungsbezirk
lag der ausgeweidete kaiserliche Palast. Die Kuppel der Kathedrale
war weggerissen worden. Das Brandenburger Tor war nur noch eine
ausgeglühte Ruine. Im Tiergarten stand kein einziger Baum
mehr. Hier und da saß immer noch ein angesengter Kaiser auf
seinem Pferd und betrachtete seine Hauptstadt. Das Westend, die
Tauentzienstraße, die Kinos am Breitscheidplatz, das Romanische
Café, die
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der ganze, großartige
Ku’damm, alles ausgebrannte Ruinen. Wertheim am
Alexanderplatz war vollkommen dem Erdboden gleichgemacht, Tietz in
Schutt und Asche gelegt. Sein Markenzeichen, der gläserne
Globus, hing noch über dem einst so prachtvollen Lichthof. Vom
Polizeipräsidium war nichts mehr übriggeblieben bis auf
ein paar Eingänge, die ins Nichts führten. Kraus
tränten die Augen, als er die Buchstaben über einem
nackten Durchgang las: Eingang Sechs.
    Der Reichstag, der
Schauplatz der letzten Schlacht zwischen der Roten Armee und
fanatischen Resten der SS, war eine von Granaten durchlöcherte
Ruine. In ihrem Schatten gedieh der Schwarzmarkt zwischen ein paar
Baumstümpfen, die noch am Ufer der Spree standen. Wo Kraus
sich einst versteckt und das Kommen und Gehen des
Wäschereiwagens beobachtet hatte, tauschten jetzt hungernde
Zivilisten mit geflickten Schuhen und zerrissenen Mänteln
Uhren, Silberbesteck, kostbares Porzellan gegen Essen und
Zigaretten mit den Soldaten der Besatzer. Zwei junge Mädchen,
ihr Haar fein säuberlich zu Zöpfen geflochten und mit
sauberen, aber löchrigen Kleidern, saßen auf dem
Bordstein neben Stapeln alter Bücher, die sie für
fünf Pfennig pro Stück verkauften. Als Kraus an ihnen
vorbeiging, sprang ihn ein dunkles, hypnotisches Augenpaar vom
Umschlag eines der Bücher förmlich an. Mein Gott! Ihm
schnürte sich der Hals zu.
    »Zwei für
neun Pfennig«, zwitscherten die Mädchen.
    Er gab ihnen eine
Mark, während er den sonderbaren Ausdruck anstarrte, der einst
eine solche Magie auf die Massen ausgeübt hatte, und nahm das
Buch.
    Die Zehn
Geheimnisse des Lebens , von Gustave Spanknobel, dem
König der Mystiker. Berlin 1932. Hellseher Verlag. Kraus
erinnerte sich. Es war Gustaves eigener Verlag. Allein das
Gefühl, das Buch in der Hand zu halten, der Geruch, das
Rascheln des alten Papiers, schien die Zeit zurückzudrehen und
bunte Bilder vor seinen Augen abzuspulen … Paula, wie sie
ihre hinreißenden Beine in diesem engen, pinkfarbenen Kleid
zeigte. Gunther, der plötzlich aus dem Nichts auftauchte und
ihn umarmte. Fritz, der den Motor
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